[imc-presse] „Rechtliche Grundlage für zukünftige Führung der PKK in der Terrorliste ist aufgehoben“

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Sat Nov 17 10:10:58 CET 2018


          Mahmut Şakar, Ko-Vorsitzender von MAF-DAD e.V., im Interview
          mit Civaka Azad über die Entscheidung des EU-Gerichts in Luxemburg

*Der Gerichtshof der Europäischen Union hat am Donnerstag entschieden,
dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zwischen 2014 und 2017 zu
Unrecht auf der Liste terroristischer Organisationen stand. Das Gericht
in Luxemburg erklärte die zugrundeliegenden Beschlüsse der EU-Staaten
wegen Verfahrensfehlern für nichtig. Wie bewertest du diese Entscheidung
und die Urteilsbegründung?*

Ich beurteile die am 15. November 2018 verkündete Entscheidung des
Gerichtshof der Europäischen Union als äußerst bedeutend und historisch.
Es ist das bislang bedeutendste Verfahren gegen die Terrorliste. Dieses
Verfahren wurde gegen die EU-Liste am 10. Februar 2014 eröffnet. Man hat
daraufhin auch gegen die alle sechs Monate stattfindende Erneuerung der
Liste geklagt. Damit ist der Hauptgegenstand die Liste von den Jahren
2014 bis 2017. Mit der Entscheidung des Gerichts wurde dargestellt, dass
alle Listen in diesen genannten Jahren nicht rechtens waren. Bis heute
hat der Rat der Europäischen Union die Argumente in vier unterteilte
Hauptkategorien vorgebracht um die Auflistung der PKK in der Terrorliste
zu rechtfertigen. Das Gericht hat all diese Argumente behandelt und für
nichtig erklärt. Nach Ansicht des Gerichts gibt es keine hinreichende
Begründung, warum die PKK auf der Liste geführt werde. In diesem
Zusammenhang kann ich sagen, dass mit dieser Entscheidung die Argumente
des Rates der Mitgliedstaaten für die Führung der PKK auf der
Terrorliste keine rechtliche Grundlage mehr hat. Wenn dieses Verfahren
vor dem Jahr 2014 eingeleitet worden wäre, dann hätte es wohl auch für
die zurückliegenden Jahre solch eine Entscheidung gegeben. Ich denke,
dass die PKK langfristig betrachtet mit diesem Urteil nicht mehr auf der
EU-Terrorliste geführt werden kann. Für die rechtlich nichtig erklärten
Verordnungen und Beschlüsse ist der Rat der Mitgliedstaaten gezwungen
neue Argumente zu finden. Denn sonst kann die Auflistung der PKK nicht
fortgesetzt werden.

*Was hat diese Entscheidung für praktische Folgen, wenn wir uns
entsinnen, dass die EU-Terrorliste die Grundlage für Prozesse gegen
kurdische Aktivisten in europäischen Ländern dargestellt hat?*

Es gibt eine Vielzahl von Verfahren gegen kurdische Aktivisten und
Einrichtungen in verschiedenen Ländern Europas. Viele Prozesse sind
abgeschlossen, einige dauern weiterhin an. Anhand konkreter Beispiele,
die ich selbst kenne, kann ich sagen, dass in den meisten dieser
Prozesse die EU-Terrorliste die einzige Grundlage darstellt. Wenn es die
Terrorliste nicht gäbe und die PKK darin nicht aufgelistet wäre, wären
eine Vielzahl von Verfahren in Europa nicht eingeleitet worden. Denn
selbst die gewöhnlichsten demokratischen Betätigungen wie
Demonstrationen und Kundgebungen, werden aufgrund der Liste in den
Terror-Diskurs mitaufgenommen und zu Vergehen verwandelt. Mit dieser
Entscheidung ist die rechtliche Basis solcher Verfahren, die zwischen
den Jahren 2014 bis 2017 eröffnet wurden, aufgehoben und haben ihre
Gültigkeit verloren. Dies wäre eine juristische Interpretation des
Gerichtsurteils und könnte sich zu einer rechtlichen Diskussion
entwickeln. Die Angeklagten dieser Verfahren könnten nun in Diskussion
mit ihren Anwälten und mit Verweis auf dieses Gerichtsurteil neue
rechtliche Schritte einleiten. Über diese praktische Konsequenzen hinaus
denke ich, dass mit dieser Entscheidung die Verbote, Repressionen und
Bestrebungen zur Kriminalisierung der demokratischen Aktionen und Kämpfe
der Kurden in Europa ihre Wirkung verloren haben. Zumindest trifft dies
rechtlich zu, politisch können diese Repressionen fortgesetzt werden.
Aber in rechtlicher Hinsicht denke ich dass diese Bestrebungen ihre
Gültigkeit verloren haben. Ich schlage vor, dass alle Aktivisten die in
irgendeinem europäischen Land aufgrund von demokratischen
Veranstaltungen oder Aktionen vor Gericht gestellt wurden, diese
Entscheidung zu ihrer Verteidigungsgrundlage machen. In dieser Hinsicht
ist das Gerichtsurteil ein wichtiges Urteil zugunsten der Demokratie und
den Rechten der Kurden.

*Warum wird die PKK trotz dieser Entscheidung immer noch auf der
Terrorliste geführt?*

Der Umfang des Verfahrens umfasst die Listen zwischen den Jahren 2014
und 2017. Eigentlich sind die Anwälte auch gegen die Liste aus dem Jahr
2018 vorgegangen, doch das Gericht hat das Verfahren eingrenzen wollen.
Denn solange das Verfahren offen ist, hätte man für jede Erneuerung der
Liste Beschwerde einlegen können und dies hätte ein Gerichtsurteil
erschwert. Das Gericht hat im Grunde selbst die Dauer des Verfahrens von
2014 bis 2017 bestimmt. Es hat erklärt keine Einwände mehr nach dieser
Zeit anzunehmen und somit hat die Akte geschlossen. Sie hat die Listen
innerhalb dieser drei Jahre in Augenschein genommen und erklärt, dass
die Führung der PKK in diesen Listen unrecht ist. Da jedoch die PKK auch
im Jahr 2018 in die Liste aufgenommen wurde und dies nicht den Rahmen
des Gerichts einschließt, ist die PKK im Jahr 2018 weiterhin aufgeführt.
Die Liste von 2018 und im Falle der weiteren Auflistung der PKK für die
nächsten Jahren werden Gegenstand für ein neues Verfahren sein. Eines
möchte ich besonders betonen; die bislang vorgebrachten vier
Hauptargumente des Rates der Mitgliedstaaten für die Aufführung der PKK
auf der Liste sind dieselben wie die für die Entscheidung im Jahr 2018.
Wenn das Gericht akzeptiert hätte, dass auch die Liste von 2018 zum
Gegenstand des Verfahrens wird, dann wäre die Entscheidung mit großer
Wahrscheinlichkeit auch für die gegenwärtige Liste gültig gewesen. Somit
wird der rechtliche Kampf gegen dieses Urteil von 2018 und weitere
Urteile gesondert andauern. Die rechtliche Grundlage für die zukünftige
Führung der PKK in der Terrorliste ist aufgehoben, auch wenn sie
praktisch weiterbesteht.

*Zwei Führungsmitglieder der PKK, Murat Karayılan und Duran Kalkan sind
die Kläger gewesen. Vor kurzem haben die USA ein Kopfgeld auf diese
beiden Politiker ausgesetzt. Besteht ein Zusammenhang zwischen beiden
Entscheidungen?*

Im Namen der PKK haben Murat Karayılan und Duran Kalkan die Klage vor
dem Gericht erhoben. Vier Jahre lang führten Anwälte in deren Namen den
Prozess. Vor kurzem haben die USA ein Kopfgeld auf diese beiden Kläger
und auf Cemil Bayik ausgesetzt. Einen rechtlichen Zusammenhang zwischen
diesen Verfahren und der Entscheidung der USA gibt es selbstverständlich
nicht. Aber ich denke man kann folgendes dazu sagen; die USA haben über
einen Terror-Diskurs ein Kopfgeld auf diese drei Politiker ausgesetzt.
Die wichtigste Stütze dieses Diskurses war natürlich die EU-Terrorliste.
Mit diesem Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union ist dieser
Terror-Diskurs gegenüber den Kurden, der kurdischen Politik und der PKK
im großem Maß geschwächt. Die Entscheidung der USA hat damit eine
schwache Grundlage. Indirekt lässt die Entscheidung des Gerichtshof der
Europäischen Union den Ansatz der USA ins Leere laufen. Ich denke, dass
dieses Gerichtsurteil in diesem Sinne wichtig ist und zumindest klar
wurde, dass die Entscheidung der USA über keine rechtliche Basis verfügt
und der Terror-Diskurs inhaltlich haltlos ist.

*In der Urteilsbegründung führte das Gericht aus, dass die Auflistung
zwar mit mehreren Vorfällen erklärt wird, diese von der EU jedoch in
juristischer Hinsicht nicht ausreichend belegt sind. Die neue Rolle der
PKK im Mittleren Osten sei nicht beachtet worden. Was ist mit der neuen
Rolle der PKK genau gemeint?*

In dem Gerichtsprozess haben die Anwälte auch den Transformationsprozess
der PKK zum Ausdruck gebracht. Zum Beispiel gab es zu Beginn des
Gerichtsprozesses einen laufenden Verhandlungsprozess in der Türkei.
Dieser Prozess wurde auch von offiziellen europäischen Vertretern
unterstützt. Das Gericht betont in seiner Entscheidung diese Tatsache.
2012 wurde die PKK zwar in die Liste aufgenommen, doch das Gericht
hinterfragt warum dieser Prozess keinen Eingang in die Beschlüsse der
europäischen Staaten gefunden hat. Was waren diese Veränderungen?
Natürlich zuallererst der Verhandlungsprozess. Die PKK hat für eine
friedliche Lösung sehr ernsthafte Schritte getan. Auch die Botschaft von
Herrn Öcalan im Jahr 2013, die vor Millionen Menschen auf dem
Newroz-Fest verlesen wurde, wird vom Gericht vermerkt. Die Unterstützung
von Vertretern der EU für diesen Prozess wird ebenfalls genannt. Darüber
hinaus ist während des Verhandlungsprozesses der Islamische Staat (IS)
entstanden und die PKK hat im Irak, in Sengal, Kerkuk, Maxmur und an
vielen anderen Orten eine wirksame Rolle im Kampf gegen den IS gespielt.
Sie hat im Mittleren Osten eine neue unübersehbare positive Rolle
eingenommen. Das alles wurde vor Gericht getragen und das Gericht stellt
in Frage, warum der Rat der Europäischen Union dem keine Beachtung
schenkt. Diese Faktoren wurde nicht genügend bewertet, was indirekt die
Führung der PKK auf der Terror-Liste nicht haltbar gemacht hätte. Das
Gericht hat mit einer offenen und fortschrittlicheren Haltung als die
Politik zum Ausdruck gebracht, dass eine Entscheidung mit der Zeit
revidiert werden kann und Veränderungen beim Gegenstand dabei
miteinbezogen werden müssen. Die Terror-Liste war an sich auch schädlich
für eine mögliche Friedensphase in der Türkei und Demokratisierung des
Mittleren Ostens. Das Gericht hat damit auf eine sehr indirekte Weise
auch eine Friedensphase, eine Demokratisierungsphase des Mittleren
Ostens zur Sprache gebracht. Das ist ein äußerst positiver Ansatz. Wir
hoffen, dass der Rat der Europäischen Union diesen Ansatz berücksichtigt
und sich davon lossagt eine so historische Angelegenheit wie die
kurdische Frage in einem Terror-Diskurs zu behandeln, die PKK
vollständig aus der Liste entfernt und somit ihren Beitrag zur
Demokratisierung der Türkei und einer friedlichen und demokratischen
Lösung im Mittleren Osten leistet.

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