[imc-presse] PM § 129 b Verfahren gegen Kurden - 2. Prozesstag

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Fri Aug 17 11:42:15 CEST 2012


*Pressemitteilung*

*Bündnis Freiheit für Ali Ihsan*


 *17.08.2012*

*Der 2. Prozesstag im 129 b Verfahren gegen den kurdischen Politiker und
Aktivisten Ali Ihsan Kitay vor dem OLG Hamburg - Selbstleseverfahren als
Mittel der Verschleierung der Realität *

Der zweite Prozesstag begann mit der Verlesung der Passagen aus
Prozessakten, die die 5 RichterInnen des Staatsschutzsenats beabsichtigen
im Selbstleseverfahren einzuführen. Deutlich wurde, dass dies sämtliche
politischen- und Waffenstillstandserklärungen der kurdischen Bewegung –
sowie deren Bewertung durch Beamten des Bundeskriminalamts (BKA) betrifft.
Mehr als 200 Dokumente der PKK, den Volksverteidigungskräften HPG und
weiterer Organisationen und Personen, die die Bundesanwaltschaft (BAW) der
PKK zuordnet, sollen „selbstgelesen“ werden.

Was bedeutet Selbstleseverfahren?

Das Gericht gibt der BAW, der Verteidigung und dem Beschuldigten Teile der
Akten zum Lesen. Daraufhin werden diese so behandelt, als wären sie in der
Verhandlung vorgelesen und diskutiert worden – und werden somit als Teil
des Prozesses gewertet.

Das Einführen der Beweismittel, auf die die Anklage gestützt ist, im
Selbstleseverfahren, bedeutet faktisch einen Ausschluss der Öffentlichkeit
vom Verständnis des Gesamtkontextes der Anklage und der Prozessführung und
eine starke Verkürzung der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema
des Prozesses. „Der Verteidigung wird eines der bedeutsamsten
Verteidigungsmittel genommen, nämlich die Möglichkeit zu einer
unmittelbaren Stellungnahme zu einzelnen Beweismitteln“, erklärte der
Verteidiger von Ali Ihsan Kitay, Carsten Gericke. Die Verteidigung legte
deshalb Widerspruch ein. Ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren hätte zudem
weit früher als am ersten Verhandlungstag angekündigt werden müssen –
ansonsten handele es sich im juristischen Sinne um ein „grob
ermessensfehlerhaftes“ Vorgehen.

In den „selbst zu lesenden“ Dokumenten befinden sich zudem viele Kommentare
und Bewertungen, also Wahrnehmungen der auswertenden Polizeibeamten,
erklärte die Verteidigung. Solche Wahrnehmungen dürften laut geltender
Rechtsprechung – und auch entsprechend bisheriger Rechtsprechung des OLG
Hamburg, nicht durch bloße Verlesung von Vermerken und daher auch nicht im
Selbstleseverfahren eingeführt werden. Negative Folgen einer solchen
Vorgehensweise würden sich insbesondere in Urteilsbegründungen zu
vorangegangenen § 129-Verfahren gegen kurdische AktivistInnen zeigen. In
diesen befänden sich immer wieder die gleichen Satzbausteine, die lediglich
die Einschätzungen der Polizeibeamten, nicht jedoch den sachlich und
juristisch korrekt abgewogenen Inhalt der Dokumente widerspiegeln.

Darüber hinaus kritisierte die Verteidigung, dass das Gericht
Übersetzungen, die der Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt (BKA) in
Auftrag gegeben haben, die ebenfalls im Selbstleseverfahren eingeführt
werden sollen, nicht auf Richtigkeit überprüfen lassen habe. Bereits im
Vorfeld des Verfahrens (im Vorverfahren) habe sich gezeigt, dass einige
dieser Übersetzungen grob fehlerhaft waren, so Rechtsanwalt Gericke. Eine
Überprüfung sei gerade deshalb notwendig und wäre nach der Einführung im
Selbstleseverfahren nicht mehr möglich, da die übersetzten Dokumente dann
als Bestandteil des Prozesses gelten. Die RichterInnen entschieden die
Widerspruchsfrist gegen das Selbstleseverfahren in solch großem Umfang bis
Dienstag nächster Woche zu verlängern, um nicht „grob ermessensfehlerhaft“
vorzugehen.

Durch ein derart weitgehendes Selbstleseverfahren von Dokumenten können
dann gerade in politischen Prozessen Schilderungen der Beamten der
„Sicherheitsorgane“, die oft stunden- oder auch tagelang als Zeugen befragt
werden und ihre einseitigen, oft wenig hintergründigen und unreflektierten,
auf reiner Verfolgungslogik basierenden, Erkenntnisse im Sinne einer
Feindbildzuschreibung gegenüber der beschuldigten Organisation oder Person
die im Gericht erzeugte Stimmung dominieren. Die Beschuldigten werden dann
erfahrungsgemäß wie z.B. bei Aktenzeichen XY ungelöst, als dunkler und
bösartiger - und zu verurteilender - Einbruch in die heile Welt von einer
völlig intakten Gesellschaft mit intakten internationalen Beziehungen,
dargestellt und gebrandmarkt. Auch tagelanges Vorlesen von
Ermittlungsergebnissen und Untersuchungsbeschlüssen vermittelt häufig einen
solchen Eindruck.

Der eigentliche Konflikt, der bezüglich des jetzigen Prozesses in der
politischen Erklärung Ali Ihsan Kitays und den ersten Anträgen der
Verteidigung deutlich wurde, würde bei einer solchen Prozessführung, so
befürchten ProzessbeobachterInnen, nur wenig verhandelt. Die Legitimität
des Widerstandes der kurdischen Bevölkerung und Bewegung gegen
Unterdrückung, gravierende Menschenrechtsverletzungen, Folter und
Kriegsverberchen seitens staatlicher Kräfte in der Türkei - sowie das
Anrecht auf Selbstbestimmung, kulturelle Rechte und der Kampf um
demokratische und emanzipierte Gesellschaften - sollte aber ein zentraler
Bestandteil der Verhandlung sein - damit es nicht dazu kommt, dass das
Handeln eines Menschen, wie seitens der BAW geschehen weitgehend ohne
Betrachtung gesellschaftlicher Realitäten und politischer Entwicklungen in
der Türkei als terroristisch definiert und kriminalisiert wird.

Daher wird sich *unter anderem* an der Entscheidung des OLG zur Frage des
Selbstleseverfahrens zeigen, in wie weit es den RichterInnen um ein
sachliches und juristisch ausgewogenes Erörtern eines Konfliktes - in
diesem Fall der kurdischen Frage und deren internationalen Auswirkungen –
geht.

*Der nächste Prozesstermin ist Dienstag, der 21.08.2012, 9.00 Uhr, OLG
Hamburg, Sievekingplatz 1*
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