[imc-presse] Pressemitteilung: Prozessbeobachtung des Strafverfahrens gegen die türkische Soziologin Pinar Selek

RAV e.V. gs at rav.de
Mon Feb 7 11:02:02 CET 2011


Sehr geehrte Damen und Herren, 

 

die Pressemitteilung dient zur Vorbereitung auf die Prozessbeobachtung am
9.2.2011 in Istanbul. Dort wird ab 11 Uhr vor dem „12. Gericht für schwere
Straftaten“ gegen Frau Selek verhandelt. Vertreterinnen des Republikanischen
Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV) werden nach dem Prozesstag eine
Presseerklärung abgeben. Diese wird am 10.2.2011 vor 10 Uhr zur Verfügung
stehen.

 

Bereits heute ab 11:30 Uhr findet ein Pressegespräch des P.E.N.-Zentrums
Deutschland und der Heinrich-Böll-Stiftung mit Pinar Selek in den Räumen der
Stiftung in der Schumannstraße 8, 10117 Berlin statt. 

Nähere Informationen finden Sie unter:
http://www.pen-deutschland.de/htm/aktuelles/presse/pm_2011-02-02.php

 

Für Rückfragen erreichen Sie Rechtsanwältin Franziska Nedelmann (stellvertr.
Vorsitzende des RAV) unter der Nummer: +49-179-5415029

 

Mit freundlichen Grüßen,

 

Sigrid v. Klinggräff

RAV-Geschäftsstelle

 

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.

Haus der Demokratie und Menschenrechte

Greifswalder Straße 4 | 10405 Berlin

Tel +49 (0)30 417 235 55 | Fax +49 (0)30 417 235 57

mailto:kontakt at rav.de | www.rav.de

VR 25942 B, Nr. 1, AG Charlottenburg, Bln

Mo, Di, Do, Fr 10:00 - 16:00

 

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Internationale Delegation beobachtet den Prozess gegen Pinar Selek 

Prozessauftakt am 9. Februar 2011 in Istanbul

Der RAV ist besorgt um die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und beobachtet
den Prozess

 

Am 9. Februar 2011 wird vor dem „Gericht für schwere Straftaten“ in Istanbul
nach 2 erfolgten Freisprüchen erneut gegen die türkische Schriftstellerin
und Soziologin Pinar Selek verhandelt werden. Pinar Selek ist durch
Veröffentlichungen insbesondere für die Rechte sozial benachteiligter
Gruppen (Straßenkinder, Transsexuelle, Prostituierte) und Minderheiten
(Kurden, Armenier) international bekannt geworden. Sie lebt derzeit in
Berlin, wo sie als Stipendiatin des deutschen P.E.N.-Zentrums an ihrem
ersten Roman arbeitet. Der Prozess wird von 20 Institutionen und
Einrichtungen beobachtet, darunter das P.E.N. Zentrum Deutschland, Human
Rights Watch (HRW), die Féderation Internationale des Ligues des Droits de
l’Homme (FIDH), Abgeordnete der Linken, der SPD und der Grünen und der
Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV).

 

Zur Vorgeschichte: 

 

Am 9.7.1998 kam es auf dem Istanbuler Gewürzbasar zu einer Explosion, die
mehrere Menschenleben forderte. Nachfolgende Untersuchungen am Tatort
ergaben, dass es sich um eine Gasexplosion, also um einen Unfall, gehandelt
hat.

 

Unabhängig von diesem Ereignis wurde Pinar Selek am 11.7.1998 verhaftet und
in Untersuchungshaft genommen. Sie hatte zuvor als Soziologin Recherchen und
Interviews zur Analyse des Konfliktes des türkischen Staates mit der
kurdischen Minderheit geführt. Aufgrund dieser Recherchen warfen ihr
türkische Sicherheitsbehörden Kontakte zur PKK vor. Nach ihrer Inhaftierung
versuchten diese, sie unter Anwendung von Folter zur Nennung der Namen ihrer
Interviewpartner zu zwingen. Weiterhin wurde behauptet, man habe in einem
von ihr mitbetreuten sozialen Projektraum für Straßenkinder Bomben gefunden.
Tatsächlich stellte sich später heraus, dass das dort angeblich aufgefundene
explosive Material bereits vor dem Fund in den Händen der Polizei gewesen
ist. Pinar Selek wurde wenige Wochen später wegen ihrer vermeintlichen
Verbindung zur der PKK und dem angeblichen Bombenfund angeklagt. 

 

Parallel hierzu tauchte im August 1998 ein weiterer Vorwurf auf. Unter
Folter hatte Abdülmecit Öztürk vor der Polizei angegeben, dass die Explosion
auf dem Gewürzbasar auf eine Bombe zurückzuführen sei, die er gemeinsam mit
Pinar Selek dort abgelegt habe. Bei späteren Vernehmungen durch
Staatsanwaltschaft und Gericht widerrief er seine polizeiliche Aussage unter
Hinweis darauf, dass diese unter Folter zustande gekommen sei, und er Pinar
Selek nicht kenne. Dennoch wurde eine zweite Anklage gegen Pinar Selek mit
dem Vorwurf erhoben, gemeinsam mit Abdülmecit Öztürk eine Bombe auf dem
Gewürzbasar gelegt zu haben.

 

Nachdem sich in dem anschließenden Gerichtsverfahren durch Anhörung von
Sachverständigen herausgestellt hatte, dass die Explosion nicht durch eine
Bombe ausgelöst worden sein kann, wurde Pinar Selek im Dezember 2000 aus der
Untersuchungshaft entlassen.

 

Das weitere Gerichtsverfahren ging außerordentlich schleppend voran. Dies
lag unter anderem daran, dass noch gegen viele weitere Angeklagte in
demselben Prozess verhandelt wurde. Darüber hinaus hat das Gericht teilweise
Verhandlungspausen von 3 Monaten gemacht. Auch führten Aktenanforderungen
anderer staatlicher Stellen zu erheblichen Verzögerungen, so dass
letztendlich erst am 8.6.2006 das Urteil gesprochen wurde. Pinar Selek und
Abdülmecit Öztürk wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. 

 

Während der Freispruch gegen den Hauptbelastungszeugen und Mitbeschuldigten
Öztürk rechtskräftig wurde, legte die Staatsanwaltschaft gegen den
Freispruch von Pinar Selek Revision ein. Diese Revision führte im April 2007
aufgrund von Formfehlern zur Aufhebung des Urteils durch den 9. Strafsenat
des Kassationsgerichts.

 

Am 23.5.2008 wurde erneut gegen Pinar Selek vor dem 12. Hohen Strafgericht
verhandelt. Auch diese Verhandlung endete am gleichen Tag mit einem
Freispruch. 

 

Die hiergegen einlegte Revision der Staatsanwaltschaft führte im April 2009
erneut zur Aufhebung des Urteils durch den 9. Strafsenat des
Kassationsgerichtes. Gegen diese Aufhebung legte nun allerdings der
Generalstaatsanwalt am Kassationsgerichtshof Beschwerde ein mit dem Ziel,
den Freispruch hinsichtlich der Explosion auf dem Gewürzbasar zu bestätigen.
Die Beschwerde führte dazu, dass sich der Große Senat am
Kassationsgerichtshof mit der Sache befassen musste. Dieser bestätigte am
9.2.2010 die Entscheidung des 9. Strafsenats des Kassationsgerichts und wies
das Verfahren an das 12. Gericht für schwere Straftaten in Istanbul zur
erneuten Verhandlung zurück. Im September 2010 erfolgte die schriftliche
Begründung der Entscheidung. Sie enthielt konkrete und einseitige Vorgaben
zur Beweiswürdigung und stützte sich dabei auf die unter Folter zustande
gekommene Aussage des freigesprochenen Zeugen Öztürk. Auch hinsichtlich des
Strafmaßes machte der Große Senat deutlich, dass er eine lebenslange
Freiheitsstrafe unter erschwerten Haftbedingungen erwarte.

 

Prozessauftakt am 09.02.2011

Der RAV hat das Verfahren bislang sowohl über die regelmäßige
Presseberichterstattung als auch über die Berichte von unseren türkischen
Kolleginnen und Kollegen verfolgt. Mit anderen Menschenrechtsorganisationen
teilen wir die Besorgnis, dass das Verfahren insbesondere nach der letzten
Entscheidung des Großen Senats den Anforderungen an ein faires Verfahren i.
S. von Art. 6 EMRK nicht genügen wird:

 

1. Der Kassationsgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 eine
belastende Zeugenaussage verwertet, die unter Folter erlangt und vor Gericht
widerrufen worden ist. Dieser Hauptbelastungszeuge wurde  bezüglichen des
gleichen Vorwurfs bereits im Jahr 2006 freigesprochen.

2. Darüber hinaus hat das Kassationsgericht seiner Entscheidung ein
Gutachten hinsichtlich der Ursache der Explosion auf dem Gewürzbasar zu
Grunde gelegt, dass im Widerspruch zu einer Vielzahl weiterer
Sachverständigengutachten steht, ohne sich auch nur mit den handgreiflichen
Widersprüchen auseinanderzusetzen.

3. Überlange Verfahrensdauer: Das Verfahren gegen Frau Selek wird nunmehr
seit über 12 ½ Jahren geführt. Obgleich schwerste Vorwürfe erhoben werden,
sie 2 ½ Jahre in Untersuchungshaft verbringen musste und bereits durch die
Vorwürfe stigmatisiert ist, kann von einer zügigen Bearbeitung des
Verfahrens nicht die Rede sein. Darin liegt offenkundig ein Verstoß gegen
Art. 6 Abs. 1 EMRK.

 

Wir fordern den unverzüglichen Freispruch von Pinar Selek sowie eine
angemessene Entschädigung für die 2 ½ jährige Untersuchungshaft und die dort
erlittene Folter.

 

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.

Haus der Demokratie und Menschenrechte

Greifswalder Straße 4 | 10405 Berlin

Tel +49 (0)30 417 235 55 | Fax +49 (0)30 417 235 57

kontakt at rav.de | www.rav.de

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