[imc-presse] [Pressemitteilung] Verwaltungsgerichtshof kritisiert Ausreiseverbote beim NATO-Gipfel

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Mon Jan 11 17:20:43 CET 2010


Strasbourg-Soligruppe Rostock

Pressemitteilung vom 11.1.2009
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* Mitführen von Holzstückchen kein Grund für ein Ausreiseverbot aus Deutschland
* Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg kritisiert Polizeipraxis zu
Ausreiseverboten beim NATO-Gipfel

Im Vorfeld des NATO-Gipfels im April 2009 verhängte vor allem die Bundespolizei
über 100 Ausreiseverbote gegen vermeintliche GipfelgegnerInnen gem. § 10
Passgesetz. Nach dieser Vorschrift kann einem Deutschen die Ausreise aus
Deutschland u.a. dann untersagt werden, wenn Tatsachen die Annahme
rechtfertigen, dass  dieser die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige
erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.

Mit einer jetzt veröffentlichten Entscheidung vom 17.12.2009 (1 S 1395/09)
stellt der VGH Ba-Wü die Rechtswidrigkeit eines Ausreiseverbotes gegen einen
Rostocker Antimilitaristen fest. Den bei der Ausreise mitgeführten Holzstücken
fehle die Indizwirkung für ein von der Polizei prognostiziertes gewalttätiges
Verhalten des Betroffenen. Die damalige Praxis der Polizei, mit der
inflationären Aufzählung sogenannter „Beweise“, seien es Flugschriften,
Megafone, Bekleidungsstücke, Küchenmesser, Zeltstangen, Holzleisten etc.,
Gewalttätigkeiten herbeizudefinieren, wird nach Auffassung der
Strasbourg-Soligruppe aus Rostock, die den  Rostocker Betroffenen der
Repression nach dem NATO-Gipfel beisteht, durch die jetzige Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zukünftig deutlich erschwert.

Die Polizei hatte durch diese „Beweise“ damals versucht, den Anwendungsbereich
des § 10 PassG derart weit zu fassen, dass jedes noch so sozialadäquate
Verhalten als Beleg für eine angebliche Gefährlichkeit des Betroffenen hätte
herangezogen werden können. Letztlich wäre es möglich gewesen, willkürlich
gegen jede Person, die nicht in das Bild der Polizei einer friedlichen
DemonstrantIn passt, ein Ausreiseverbot zu verhängen. Das durch die Grundrechte
geschützte Demonstrationsrecht wäre so ad absurdum geführt worden, so die
Soligruppe.

Auch in dem hier vorliegenden Fall begründete die Polizei das Ausreiseverbot mit
Holzstücken, die sie im Fahrzeug des Bekannten, mit dem der Rostocker gemeinsam
zur Demonstration nach Strasbourg reisen wollte, gefundenen hatte. Diese
Holzteile führte er nach Ansicht der Polizei zu gewalttätigen Zwecken mit.
Desweiteren führte die Polizei zur Begründung das Vorliegen mehrerer
Strafverfahren von 2001 -2005 gegen den Betroffenen in NRW und von zwei
Verfahren im Jahr 2007 in Rostock an. Der VGH sieht jedoch bei den im Auto
gefundenen Holzstücken keine verlässliche Indizwirkung für die
Gewaltbereitschaft des Betroffenen.
Schließlich wurde gegen den Eigentümer und Fahrer des Wagens, der im übrigen als
Zimmerer ein Reisegewerbe betreibt, kein Ausreiseverbot verhängt.
Auch bei den von der Polizei genannten Strafverfahren kritisiert der VGH deren
fehlende Indizwirkung. Die angeblichen Strafverfahren aus NRW aus den Jahren
2001 bis 2005 hätten keine zeitliche Nähe zum Gipfel in Strasbourg gehabt und
seien schon deswegen nicht relevant. Die beiden Verfahren aus 2007 führten in
dem einem Fall zu einem Freispruch, im anderen Fall zu einer Einstellung und
fallen auch deswegen als Indiz aus.

HINTERGRUND:

Gegen die massenhaft verhängten Ausreiseverbote wehrten sich schon im Vorfeld
des Gipfels eine Vielzahl der Betroffenen mit Widersprüchen sowie Anträgen auf
vorläufigen Rechtsschutz. Bereits im April 2009 gab das Verwaltungsgericht
Stuttgart einer überwältigenden Mehrzahl der Betroffenen recht und gestattete
diesen im Wege von einstweiligen Anordnungen die Ausreise nach Frankreich.

Das VG stellte darin klar, dass allein die Speicherung der Betroffenen in
polizeilichen Datenbanken ein Ausreiseverbot nicht rechtfertigen kann. Auch der
Einleitung eines Strafverfahrens in jüngerer Zeit kommt keine Indizwirkung für
das Ausgehen einer Gefährdung durch den Betroffenen zu, wenn das
Ermittlungsverfahren nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Es müssen schon
weitere Tatsachen hinzutreten, die die Annahme eines prognostizierten
gewalttätigen Verhaltens rechtfertigen.

Verneint wurde durch den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg bislang auch,
dass lediglich das Mitführen eines Megafons die Annahme eines unfriedlichen 
Verhaltens begründen kann (1 S 809/09). Allerdings könnten neben der Einleitung
eines Ermittlungsverfahrens in jüngerer Zeit wegen Landfriedensbruch z. B. im
Auto mitgeführte Flugschriften und ein Megafon als zusätzliche Indizien zu
werten sein (1 S 807/09).

In dem vorliegenden Fall wehrte sich der Betroffene mit einem Eilantrag vom
4.4.2009 an das VG Stuttgart gegen das Ausreiseverbot. Das VG Stuttgart wies
seinen Antrag jedoch als unzulässig zurück, da das Fax zu spät beim Gericht
eingegangen sei. Bei der nochmaligen juristischen Kontrolle durch den
Verwaltungsgerichtshof stellte das Gericht allerdings fest, dass das
Verwaltungsgericht Stuttgart den rechtzeitig eingegangen Antrag auf vorläufigen
Rechtsschutz lediglich zu spät zur Kenntnis genommen hatte. Zudem, so der VGH -
und das ist hier entscheidend - hätte der Eilantrag voraussichtlich wegen der
oben erwähnten fehlenden Indizwirkung für ein gewalttätiges Verhalten Erfolg
gehabt.

Dass es im Vorfeld des Klimagipfels in Kopenhagen, soweit bekannt, kein 
Ausreiseverbot gab, ist als ein Erfolg des konsequenten juristischen Vorgehens 
der Betroffenen gegen die willkürliche Polizeipraxis zu werten. Offensichtlich
wollte sich die Polizei nicht erneut die Blöße geben, dass ihre Maßnahmen im
Nachhinein durch die Gerichtsbarkeit in aller Deutlichkeit als rechtswidrig
kritisiert werden.

Allerdings könnte der Strategiewechsel der Repressionsbehörden auch damit zu tun
haben, durch die öffentlichkeitswirksame Festnahme von Hunderten von
GipfelgegnerInnen während der Gipfelproteste selbst ihre „Macht“ deutlich
sichtbar zu zeigen und dadurch auf potentielle DemonstrantInnen abschreckend zu
wirken, anstelle weit im Vorfeld der eigentlichen Protestveranstaltungen an den
nationalen Grenzen ohne wirksame Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit Menschen
von der Teilnahme an Protesten fernzuhalten.
Dass dieser Plan nicht aufgeht, sondern auch die Praxis der Massenfestnahmen
unter erniedrigenden und unmenschlichen Bedingungen während der Gipfelproteste
in Kopenhagen sowohl von der Gerichtsbarkeit als auch in der Öffentlichkeit als
rechtswidrig und skandalös angeprangert werden, ist Ziel der
Antirepressionsarbeit. Eine Chance, dagegen vorzugehen, sieht die Soligruppe in
einem konsequenten Skandalisieren dieser Polizeipraxis in den Gerichtsstuben und
auf der Straße.

Kuriosität am Rande:
Für den Fahrer des Wagens war die Fahrt zur Demonstration nach Strasbourg eine  
Stunde später und 300 Meter weiter auch zu Ende. Die französischen Grenzbeamten
sprachen ihm gegenüber ein Einreiseverbot aus. Begründung: In seinem
Firmenfahrzeug wäre eine Person mitgereist, die eine Ausreiseuntersagung aus
Deutschland bekommen hätte.


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