[imc-presse] [attac-d-presse] Steuerskandal: Erklärung der Wissenschaftlichen Beiräte von Attac Deutschland und Frankreich

Frauke Distelrath presse at attac.de
Mon Mar 3 13:55:22 CET 2008


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

am morgigen Dienstag beraten die EU-Wirtschafts- und -Finanzminister
beim Ecofin in Brüssel über Maßnahmen gegen Steuerflucht. Aus diesem
Anlass möchten wir Sie auf eine gemeinsame Erklärung renommierter
Mitglieder der Wissenschaftlichen Beiräte von Attac Deutschland und
Attac Frankreich zum Thema hinweisen, die sie weiter unten sowie im
Anhang dieser Mail finden.

Die Erklärung mit dem Titel "Die Lunte am neoliberalen Pulverfass?"
zeigt den Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Finanzmarktkrise und
dem aktuellen Steuerfluchtskandal auf. So verweisen die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darauf, dass die Akteure, die
am Zustandekommen der Finanzmarktkrise maßgeblich beteiligt sind
(insbesondere Hedge-Fonds), von so genannten Steuerparadiesen aus
operieren. Weiterhin stellen sie fest, dass es nicht genügt, die
Steueroasen auszutrocknen, sondern das globale Finanzsystem
grundlegend zu reformieren ist. Die Liechtenstein-Affaire sei nur die
Spitze des Eisbergs.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern daher unter
anderem weltweite Kapitalverkehrskontrollen sowie eine globale
Steuerharmonisierung unter der Ägide der Vereinten Nationen.

Für Rückfragen zu der Erklärung wenden Sie sich bitte an:

* Für den Wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland:
  Peter Wahl, Tel. 0160-823 4377
* Für den Wissenschaftlichen Beirat von Attac Frankreich:
  Jacques Cossart, Tel. 0033-(0)6-7028 2160

Mit freundlichen Grüßen
Frauken Distelrath


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                DIE LUNTE AM NEOLIBERALEN PULVERFASS?

                    Erklärung von Mitgliedern der
                      Wissenschaftlichen Beiräte
              von Attac Deutschland und Attac Frankreich
                zu Finanzkrise und Steuerfluchtskandal
                

Gerät das ganze globale Finanzsystem in Brand? Nach der
Immobilienkrise in den USA, die in eine allgemeine Banken- und
Finanzkrise überging, endeten die gigantischen Spekulationsgeschäfte
der Société Générale in Frankreich, der IKB, der Sächsischen
Landesbank und anderer deutscher Institute in einem Fiasko, das nicht
nur Resultat mangelnder interner Kontrollen ist. Jetzt kommt noch der
Skandal der Steueroasen hinzu.

Nun kommt heraus, was man angeblich nicht wusste: Hunderte von
deutschen Top-Managern, Millionären und sogar Politiker haben via
Liechtenstein Steuern in Höhe von mehreren Milliarden Euro
hinterzogen. Einige Tage später erfahren wir, dass 200 französische
Steuerpflichtige das gleiche Spiel getrieben haben. Inzwischen sind im
Zusammenhang mit dem aktuellen Skandal etwa zehn Länder bekannt, die
von Steuerflucht nach Liechtenstein und andere Steueroasen, darunter
die Schweiz, betroffen sind.

Dabei hat es seit Jahren nicht an Warnungen gefehlt. 1989 hatte die G7
sogar beschlossen, eine Task Force zur Bekämpfung von
Finanzkriminalität (GAFI) zu schaffen und die Steueroasen zu einem
korrekteren Verhalten zu bringen. Aber nachdem die GAFI eine Liste der
Länder erstellt hatte, die sich regelwidrig verhielten, wurde 2006
erklärt, es gäbe "kein Land und kein Territorium mehr, das nicht
kooperiere." Die Europäische Union hatte Liechtenstein und andere
Steueroasen überzeugt, eine Richtlinie von 2003 zu akzeptieren, die
wahlweise eine Informationspflicht oder eine Quellensteuer für
Kapitalbesitzer vorsah. Offensichtlich hat dies aber alles nichts
genützt.

Wenn man weiß, dass es allein schon in Europa von Steueroasen nur so
wimmelt und dass alle Banken Niederlassungen dort unterhalten, dann
wird deutlich, dass diese Territorien keineswegs eine Anomalie sind,
sondern ein wesentlicher Bestandteil des neoliberalen Finanzsystems.
Steueroasen sind auch der bevorzugte Standort jener Akteure, die die
Verbriefung der US-Hypothekenkredite betrieben haben, die dann zur
Subprime-Krise führte.

Seit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der EU und
weltweit wurde das internationale Finanzsystem gründlich zu Gunsten
der Kapitalrenditen reorganisiert. Sowohl die einzelnen Unternehmen
wie auch die Märkte insgesamt wurden davon erfasst. Die Spekulation
auf Wertpapiere, Derivate und Devisen wurde zur Dauererscheinung.
Alles dreht sich nur noch darum, Höchstrenditen für die Shareholder zu
erzielen. Da kann es nicht überraschen, wenn die Nutznießer
traumhafter Einkünfte auch noch versuchen, sich vor der Zahlung ihrer
Steuern zu drücken.

Es ist diese Geisteshaltung im Banne des realen Neo-Liberalismus -
eine neue Mentalität -, es ist diese Gier nach Höchstprofiten, die
nach 20 Jahren Neoliberalismus die kriminelle Energie zur
Steuerhinterziehung erzeugt. Die starke Zunahme der Ungleichheit
fördert die Arroganz und den völligen Mangel an Unrechtsbewusstsein
bei den herrschenden Eliten und führt schließlich dazu, dass alle
Grenzen ignoriert werden. Da es keinerlei Hindernis für den freien
Fluss des Kapitals gibt, kann dieses nach Belieben Unternehmen
restrukturieren und Standorte verlagern. Da es keine Grenzen der
Ungleichheit mehr gibt, wären die Ritter der Rendite ja auch dumm,
wenn sie noch Skrupel hätten!

Jetzt kommt der große Katzenjammer. Die Bundesregierung beklagt die
Intransparenz bei Steueroasen und das Bankgeheimnis. In Frankreich
kritisiert der Staatspräsident die Exzesse der Finanzindustrie. Aber
die Grundlagen des Finanzkapitalismus stellen sie nicht in Frage. Im
Gegenteil, die EU ist geradezu auf dem sakrosankten Prinzip des
schrankenlosen Kapitalverkehrs gebaut. Der Vertrag von Lissabon hat
dies noch einmal bekräftigt.


Was tun?

    ·   Zuallererst sind die Steueroasen, die Teil der EU sind, unter
        Androhung von Sanktionen schlicht und einfach zu schließen -
        und zwar sofort.
        
    ·   Notwendig ist zudem die Aufhebung des Bankgeheimnisses und die
        öffentliche Kontrolle des Zahlungsverkehrs, um Einblick in die
        Kapitalflüsse in die und aus den Steueroasen zu gewinnen und
        sie entsprechend kontrollieren zu können. Nur so bekommt eine
        Besteuerung der Transaktionen Sinn.
        
    ·   Diese Neuregelung muss mit einer Steuerharmonisierung in der
        EU einhergehen, die die Einkünfte aller natürlichen Personen
        und die Unternehmensgewinne umfasst. Entweder akzeptiert die
        EU eine kooperative Strategie, oder sie lässt Steuerdumping
        zu. Dies würde sie allerdings völlig unglaubwürdig machen.
        
    ·   Schließlich ist eine grundlegende Reorganisierung des globalen
        Geld- und Finanzsystems unumgänglich. Dazu sind weltweite
        Kapitalverkehrskontrollen notwendige Voraussetzung, um zu
        verhindern, dass eine Krise die andere jagt.
        
    ·   Die Zentralbanken müssen demokratische Entscheidungen
        respektieren und wieder zu öffentlichen Institutionen werden,
        die das Geld im Interesse der Mehrheit verwalten.
        
    ·   Zudem ist es an der Zeit, eine globale Steuerharmonisierung
        unter der Ägide der UNO in Angriff zu nehmen.

Die neoliberale Politik führt nicht nur zu Betrügerei, sondern stellt
auch die sozialen Sicherungssysteme in Frage: Was wird aus den
sozialen Netzen wenn die Finanzindustrie sich ihrer bemächtigt?
Die Zeit drängt. Schon zu lange erleben wir die Dominanz des
Neoliberalismus. Man muss die Steueroasen austrocknen, die
Finanzmärkte entwaffnen und eine Welt schaffen, die auf Solidarität
beruht - im Rahmen des Nationalstaates und international.


UnterzeichnerInnen:

* Prof. Elmar Altvater, Wirtschaftswissenschaftler, FU Berlin
* Prof. Adelheid Biesecker, Wirtschaftswissenschaftlerin, Universität
  Bremen
* Dr. Martin Büscher, Wirtschaftswissenschaftler, Studienleiter
  Evangelische Akademie Villigst, Dozent an der Universität St. Gallen
* Jacques Cossart, Wirtschaftswissenschaftler, ehemaliger Mitarbeiter
  der Weltbank
* Prof. Gérard Duménil, Wirtschaftswissenschaftler, Forschungsdirektor
  am Centre National de Recherche Scientifique
* Prof. Jean-Marie Harribey, Wirtschaftswissenschaftler, Universität
  Bordeaux
* Prof. Jörg Huffschmid, Wirtschaftswissenschaftler, Universität Bremen
* Prof. Hans-Jürgen Krysmanski, Soziologe, Universität Münster
* Prof. Dominique Plihon, Wirtschaftswissenschaftler, Universität
  Paris XIII




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Frauke Distelrath
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