[SFB_disko] Autonomes Seminar / Postmoderne Klassenanalyse
wolfgang ratzel
wolfgang.ratzel at arcor.de
Die Jul 12 17:46:08 CEST 2005
Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität -
Reihe Gemeinwohlpolitik und Ausnahmezustand
Liebe Leute,
Robert hat vorgeschlagen, eine Debatte über ein Thema zu eröffnen,
das ich 'Postmoderne Klassenanalyse' nennen würde. Das ist ein höchst
erfreulicher Vorschlag, den ich gerne unterstütze und weitergebe.
Meines Erachtens sollte die Debatte erst einmal auf folgende drei
Fragen eingeschränkt werden:
(1) Welche (neuen?) Klassen stehen sich in den Gesellschaften der
Industrieländer gegenüber und welche Klassen sind die Hauptklassen?
Welche Merkmale kennzeichnen diese Klassen?
(2) Was ist mit dem alten Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital
(Bourgeoisie und Proletariat) geschehen? Gibt es ihn noch, und -wenn ja-
welche Bedeutung hat er.
(3) Inwiefern ist 'Klasse' eine sinnvolle Kategorie, inwiefern nicht oder nicht
mehr?
Zur Methode: In den Debattenbeiträgen sollte möglichst dargelegt
werden, unter welchem leitenden Gesichtspunkt sie die Bevölkerung in
Klassen einteilen.
Mein Vortrag, auf den sich Robert bezieht, liegt bislang schriftlich
nicht vor. Ich kann deshalb im Moment meine Position nur anhand der
'Kommentierten Einladung' zum Seminar vom 7.7.2005 stichpunktartig
voranstellen; danach folgt Roberts Erwiderung. Anmerkung: Roberts
Beitrag habe ich durch Absätze und Fettschrift etwas redigiert - um
der Lesbarkeit willen. Robert hat die Frage (3) ergänzt und ist mit
dem Vefahren einverstanden. Es kann also losgehen!
Viele Grüße
Wolfgang
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Beitrag 1:
Wolfgang Ratzel: Wer muss - bei Strafe des Untergangs - an einem
'Bündnis für gemeinwohlorientierte Politik' interessiert sein ?
ÜBER ELF MERKMALE DER NEUEN KLASSE DER NICHTVERWERTBAREN MENSCHEN
(Vortrag im Rahmen des Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität
zu Berlin - Forum "Neue BioPolitik" in der Reihe: Gemeinwohlpolitik
und Ausnahmezustand vom Donnerstag, 7. Juli 2005)
Nachdem in den ersten drei Vorträgen dargelegt wurde, was unter
Gemeinwohl und Politik verstanden wird, geht es auf dem vierten
Treffen um die Frage, ob es in der Bevölkerung eine Gruppe von
Menschen gibt, die existentiell auf eine gemeinwohlorientierte
Politik angewiesen ist.
Diese Klasse von Menschen wird jedoch keineswegs als heilsbringendes
revolutionäres Subjekt begriffen. Es geht hier nicht um politische
Theologie, sondern um die Beschreibung von Strukturmerkmalen einer
bestimmten Daseinsweise.
Folgende Aussagen werden am Donnerstag näher dargelegt und zur
Diskussion gestellt:
Die Bevölkerung auf dem Territorium der BRD zerfällt unter den
heutigen kapitalistischen Lebens- und Arbeitsverhältnissen in zwei
große Klassen:
Die Klasse der verwertbaren Menschen und die Klasse der
nichtverwertbaren Menschen. Der hauptsächliche Riss, der sich
zunehmend zum Abgrund weitet, verläuft zwischen diesen beiden
Bevölkerungsgruppen.
01. Der Status der Nichtverwertbarkeit ist das grundlegende Strukturmerkmal
(Existenzial) der neuen Klasse. Davon abhängig wirken folgende
Strukturmerkmale:
02. Einkommensarmut;
03. Faktische De-Aktivierung (nicht Suspendierung) vieler im
Grundgesetz garantierter
Freiheitsrechte; [Tendenz zum Ausnahmezustand]
04. Entpersönlichung bzw. Entindividualisierung durch den Status der
Bedarfsgemeinschaft; [Lagerisierung / Lager]
05. Unterkunfts'berechtigung'; [Lagerisierung / Lager]
06. Extreme Staatsbedürftigkeit bzw. Gemeinwohlabhängigkeit;
07. Stellenlosigkeit bzw. Stellenbedürftigkeit
Nachfolgende vier Merkmale verbindet die neue Klasse der
Nichtverwertbaren mit der Situation der 'alten' ArbeiterInnen-Klasse:
08. Landlosigkeit;
09. Produktionsmittellosigkeit;
10. Eigentumslosigkeit;
11. Entfähigung.
Schlussfolgerungen:
' Politische und wirtschaftliche Selbstbehauptung der
nichtverwertbaren Menschen durch Selbstorganisation (z.B. in
Selbsthilfegruppen / Nachbarschaftsvereinigungen); diese Organisation
muss unabhängig von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden der
verwertbaren Menschen erfolgen!
' Eingreifen in die Tagespolitik (u.a. Teilnahme an Wahlen) in einem
Bündnis für
gemeinwohlorientierte Politik.
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Beitrag 2:
Robert Ulmer: LEICHT ERSETZBARE LOHNABHÄNGIGE - ODER NICHT
VERWERTBARE MENSCHEN?
Dass es "nicht verwertbare" Menschen gibt, ist unstrittig: Alte und Kranke,
Menschen mit Behinderungen, sehr kleine Kinder. Hier gibt es (noch?) einen
gesellschaftlichen Konsens, diese Leute zu versorgen. Darüber habt ihr (das
autonome Seminar mit Wolfgang Ratzel) viel diskutiert, zum Thema Euthanasie
z.B., davon soll jetzt nicht die Rede sein.
Anders steht es um die arbeitsfähigen Armen, die "erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen" des SGB II. Diese haben sich ihr Sozialeinkommen in
Zukunft selbst zu verdienen. Konsequenter Extrempunkt dieser Entwicklung ist
Tod durch Verhungern, Erfrieren (Unversorgtsein) für diejenigen, die nicht
mitspielen.
Was heißt "mitspielen":
a) arbeiten zu immer schlechteren Bedingungen, oder
b) dem Staat zur Verfügung stehen (z.B. für MAE-Jobs).
Diese doppelte Zumutung betrifft oder bedroht auch immer mehr die
Beschäftigten, und zwar diejenigen Beschäftigten, die LEICHT ERSETZBAR sind.
Sie sind durchaus verwertbar, befinden sich aber in Konkurrenz zu zahllosen
Anderen, die sie ersetzen können. Der Vorgang des Ersetzens der gesicherten
Beschäftigten, die aus Sicht der Kapitalisten zu hohe Ansprüche stellen,
läuft zwar verzögert ab: es gibt geltende Rechte, die erst nach und nach
außer Kraft gesetzt werden können, es gibt persönliche Bindungen, die Leute
sind eingearbeitet. Diejenigen, die am besten eingearbeitet sind oder von
den KollegInnen am meisten gemocht werden, sind eben nicht so leicht
ersetzbar wie andere. Aber auch mit Verzögerung, das Resultat ist absehbar:
eine immer härtere Unterbietungskonkurrenz um zum Teil immer scheußlichere
Jobs.
Welche Klassen stehen sich, so gesehen, gegenüber:
- diejenigen, die gesichert, privilegiert sind, auf der oberen Seite, und
- diejenigen, die von Armut, ungesicherter Zukunft, härteren Zwängen,
betroffen oder bedroht sind, auf der unteren Seite.
Wobei zu berücksichtigen ist, dass
a) die "Prekarisierung" zwar einerseits immer weitere Kreise zieht, dass
also immer größere Bevölkerungsgruppen sich irgendwie verunsichert oder
"prekarisiert" fühlen, "Angst vor dem Absturz" (Ehrenreich) haben, dass es
aber
b) nach wie vor eine Schichtung gibt, also substanzielle Unterschiede im
Versorgtsein zwischen Leuten, die sich z.B., getragen von einem stabilen
Netzwerk unterstützender Kontakte, von einem lukrativen Honorarjob zum
nächsten hangeln, auf der einen Seite, und Hartz-IV-Leuten oder MigrantInnen
ohne legalen Aufenthaltsstatus auf der anderen Seite.
Was ist der Unterschied zwischen
- Wolfgangs Auffassung einer Klasse von nicht verwertbaren Menschen, und
- meiner (an Gorz angelehnter) Auffassung einer Klasse leicht ersetzbarer
Lohnabhängiger:
die nicht Verwertbaren sind tatsächlich und endgültig überflüssig, sie
wurden von der Ökonomie "ausgeschieden" (Analogie zur Verdauung); ihr
Schicksal ist von der Gnade, der Mildtätigkeit, dem real existierenden
Gemeinwohl abhängig. Dagegen sind die leicht Ersetzbaren, obwohl auch sie
von der Ökonomie ausgeschieden werden oder vom Ausscheiden bedroht sind,
dazu verurteilt, sich als Arbeitskraft zu "recyceln", sie haben in
Konkurrenz gegen andere leicht Ersetzbare um ihre Verwertung zu kämpfen.
Entweder (bzw. an manchen Orten) wird dieser Kampf um Verwertung zu einem
Kampf auf Leben und Tod, oder (hierzulande) der Staat springt ein und
honoriert die nachgewiesene Mühe beim Kampf um elende Jobs mit einem
Almosen, aber eben nur dann, wenn die "erwerbsfähige(n) Hilfebedürftige(n)
... alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer
Hilfebedürftigekeit ausschöpfen" (§2 SGB II), (oder wenn sie sich als "nicht
erwerbsfähig" diagnostizieren lassen - das wäre ein neues Thema).
Endgültig nicht verwertbar sind die wenigsten.
Was unserer Arbeitsgesellschaft zur Zeit ein neues Gesicht gibt, ist
die Dynamik der Verschärfung des Lohnzwanges, die Pflicht zur
Konkurrenz. Angstgetrieben,
nach dem Motto, rette sich wer kann, drängeln sich die leicht Ersetzbaren um
immer weniger Jobs, erfinden neue Jobs, neue Wege der Verwertung ihrer
selbst, sind sich für nichts mehr zu schade und werden immer diensteifriger,
denn sie wissen: unverdientes Einkommen gibt es nicht mehr, Einkommen gibt
es nur noch als Lohn, und der Lohn reicht nicht mehr für alle.
Dieser Unsinn findet in einer Welt statt, die so reich ist wie nie zuvor. Um
ALLE vor Hunger zu bewahren, genügen 0,25 % des BIP (Rolf Künnemann: Basic
food income - option or obligation, kuennemann at fian.org,
http://www.fian.org/fian/index.php?option=com_doclight&task=details&Itemid=100&dl_docID=43).
U. a. auch deshalb plädiere ich weiter dafür, in unterschiedlichen Gruppen,
Schichten, politischen Lagern und gesellschaftlichen Klassen für ein
a) unmittelbar lebensrettendes und
b) perspektivisch vom Zwang zur Verwertung befreiendes (also
möglichst bedingungsloses) Grundeinkommen zu werben und Verbündete zu
finden.
Robert Ulmer, 09.07.05
-------------- nächster Teil --------------
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