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<html><head><style type="text/css"><!--
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 --></style><title>Autonomes Seminar / Postmoderne
Klassenanalyse</title></head><body>
<div><br></div>
<div><font face="Arial" size="+1" color="#000000"><b>Autonomes Seminar
an der Humboldt-Universität -<br>
Reihe Gemeinwohlpolitik und Ausnahmezustand<br>
<br>
</b>Liebe Leute,<br>
<br>
Robert hat vorgeschlagen, eine Debatte über ein Thema zu eröffnen,
das ich 'Postmoderne Klassenanalyse' nennen würde. Das ist ein
höchst erfreulicher Vorschlag, den ich gerne unterstütze und
weitergebe.<br>
Meines Erachtens sollte die Debatte erst einmal auf folgende drei
Fragen eingeschränkt werden:<br>
<br>
<b>(1) Welche (neuen?) Klassen stehen sich in den Gesellschaften der
Industrieländer gegenüber und welche Klassen sind die
Hauptklassen?<br>
Welche Merkmale kennzeichnen diese Klassen?<br>
<br>
(2) Was ist mit dem alten Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und
Kapital<br>
(Bourgeoisie und Proletariat) geschehen? Gibt es ihn noch, und -wenn
ja-<br>
welche Bedeutung hat er.<br>
<br>
(3) Inwiefern ist 'Klasse' eine sinnvolle Kategorie, inwiefern
nicht oder nicht<br>
mehr?<br>
<br>
Zur Methode: In den Debattenbeiträgen sollte möglichst dargelegt
werden, unter welchem leitenden Gesichtspunkt sie die Bevölkerung in
Klassen einteilen.<br>
<br>
</b>Mein Vortrag, auf den sich Robert bezieht, liegt bislang
schriftlich nicht vor. Ich kann deshalb im Moment meine Position nur
anhand der 'Kommentierten Einladung' zum Seminar vom 7.7.2005
stichpunktartig voranstellen; danach folgt Roberts Erwiderung.
Anmerkung: Roberts Beitrag habe ich durch Absätze und Fettschrift
etwas redigiert - um der Lesbarkeit willen. Robert hat die Frage (3)
ergänzt und ist mit dem Vefahren einverstanden. Es kann also
losgehen!<br>
<br>
Viele Grüße<br>
Wolfgang<br>
<br>
..........................................<br>
<br>
</font><font face="Arial" size="+2" color="#000000"><u><b>Beitrag
1:<br>
</b></u></font><font face="Arial" size="+1"
color="#000000"><b>&nbsp;<br>
Wolfgang Ratzel:&nbsp; Wer muss - bei Strafe des Untergangs - an
einem 'Bündnis für gemeinwohlorientierte Politik' interessiert
sein ?<br>
ÜBER ELF MERKMALE DER NEUEN KLASSE DER NICHTVERWERTBAREN
MENSCHEN<br>
</b>(Vortrag im Rahmen des Autonomes Seminar an der
Humboldt-Universität zu Berlin - Forum &quot;Neue BioPolitik&quot;
in der Reihe: Gemeinwohlpolitik und Ausnahmezustand vom Donnerstag, 7.
Juli 2005)<br>
<br>
Nachdem in den ersten drei Vorträgen dargelegt wurde, was unter
Gemeinwohl und Politik verstanden wird, geht es auf dem vierten
Treffen um die Frage, ob es in der Bevölkerung eine Gruppe von
Menschen gibt, die existentiell auf eine gemeinwohlorientierte Politik
angewiesen ist.<br>
Diese Klasse von Menschen wird jedoch keineswegs als heilsbringendes
revolutionäres Subjekt begriffen. Es geht hier nicht um politische
Theologie, sondern um die Beschreibung von Strukturmerkmalen einer
bestimmten Daseinsweise.<br>
<br>
Folgende Aussagen werden am Donnerstag näher dargelegt und zur
Diskussion gestellt:<br>
<br>
<b>Die Bevölkerung auf dem Territorium der BRD zerfällt unter den
heutigen kapitalistischen Lebens- und Arbeitsverhältnissen in zwei
große Klassen:<br>
Die Klasse der verwertbaren Menschen und die Klasse der
nichtverwertbaren Menschen. Der hauptsächliche Riss, der sich
zunehmend zum Abgrund weitet, verläuft zwischen diesen beiden
Bevölkerungsgruppen.<br>
<br>
</b>01. Der Status der Nichtverwertbarkeit ist das grundlegende
Strukturmerkmal<br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp; (Existenzial) der neuen Klasse. Davon
abhängig wirken folgende&nbsp;&nbsp;<br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp; Strukturmerkmale:<br>
<br>
02. Einkommensarmut;<br>
03. Faktische De-Aktivierung (nicht Suspendierung) vieler im
Grundgesetz garantierter<br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp; Freiheitsrechte; [Tendenz zum
Ausnahmezustand]<br>
04. Entpersönlichung bzw. Entindividualisierung durch den Status
der<br>
&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp; Bedarfsgemeinschaft;
[Lagerisierung / Lager]<br>
05. Unterkunfts'berechtigung'; [Lagerisierung / Lager]</font></div>
<div><font face="Arial" size="+1" color="#000000">06. Extreme
Staatsbedürftigkeit bzw. Gemeinwohlabhängigkeit;</font></div>
<div><font face="Arial" size="+1" color="#000000">07. Stellenlosigkeit
bzw. Stellenbedürftigkeit<br>
<br>
Nachfolgende vier Merkmale verbindet die neue Klasse der
Nichtverwertbaren mit der Situation der 'alten'
ArbeiterInnen-Klasse:<br>
08. Landlosigkeit;<br>
09. Produktionsmittellosigkeit;<br>
10. Eigentumslosigkeit;<br>
11. Entfähigung.<br>
<br>
<b>Schlussfolgerungen:<br>
</b></font><font face="Times" size="+1"
color="#000000">'</font><font face="Arial" size="+1" color="#000000">
Politische und wirtschaftliche Selbstbehauptung der nichtverwertbaren
Menschen durch Selbstorganisation (z.B. in Selbsthilfegruppen /
Nachbarschaftsvereinigungen); diese Organisation muss unabhängig von
Parteien, Gewerkschaften und Verbänden der verwertbaren Menschen
erfolgen!<br>
' Eingreifen in die Tagespolitik (u.a. Teilnahme an Wahlen) in einem
Bündnis für<br>
gemeinwohlorientierte Politik.<br>
.....................................................................<span
></span>...<br>
<br>
<br>
</font><font face="Arial" size="+2" color="#000000"><u><b>Beitrag
2:<br>
<br>
</b></u></font><font face="Arial" size="+1" color="#000000"><b>Robert
Ulmer: LEICHT ERSETZBARE LOHNABHÄNGIGE - ODER NICHT VERWERTBARE
MENSCHEN?<br>
<br>
</b>Dass es &quot;nicht verwertbare&quot; Menschen gibt, ist
unstrittig: Alte und Kranke,<br>
Menschen mit Behinderungen, sehr kleine Kinder. Hier gibt es (noch?)
einen<br>
gesellschaftlichen Konsens, diese Leute zu versorgen. Darüber habt
ihr (das<br>
autonome Seminar mit Wolfgang Ratzel) viel diskutiert, zum Thema
Euthanasie<br>
z.B., davon soll jetzt nicht die Rede sein.<br>
<br>
Anders steht es um die arbeitsfähigen Armen, die
&quot;erwerbsfähigen<br>
Hilfebedürftigen&quot; des SGB II. Diese haben sich ihr
Sozialeinkommen in<br>
Zukunft selbst zu verdienen. Konsequenter Extrempunkt dieser
Entwicklung ist<br>
Tod durch Verhungern, Erfrieren (Unversorgtsein) für diejenigen, die
nicht<br>
mitspielen.<br>
<br>
Was heißt &quot;mitspielen&quot;:<br>
a) arbeiten zu immer schlechteren Bedingungen, oder<br>
b) dem Staat zur Verfügung stehen (z.B. für MAE-Jobs).<br>
<br>
Diese doppelte Zumutung betrifft oder bedroht auch immer mehr die<br>
Beschäftigten, und zwar diejenigen Beschäftigten, die LEICHT
ERSETZBAR sind.<br>
Sie sind durchaus verwertbar, befinden sich aber in Konkurrenz zu
zahllosen<br>
Anderen, die sie ersetzen können. Der Vorgang des Ersetzens der
gesicherten<br>
Beschäftigten, die aus Sicht der Kapitalisten zu hohe Ansprüche
stellen,<br>
läuft zwar verzögert ab: es gibt geltende Rechte, die erst nach
und nach<br>
außer Kraft gesetzt werden können, es gibt persönliche
Bindungen, die Leute<br>
sind eingearbeitet. Diejenigen, die am besten eingearbeitet sind oder
von<br>
den KollegInnen am meisten gemocht werden, sind eben nicht so
leicht<br>
ersetzbar wie andere. Aber auch mit Verzögerung, das Resultat ist
absehbar:<br>
eine immer härtere Unterbietungskonkurrenz um zum Teil immer
scheußlichere<br>
Jobs.<br>
<br>
<b>Welche Klassen stehen sich, so gesehen, gegenüber:<br>
- diejenigen, die gesichert, privilegiert sind, auf der oberen Seite,
und<br>
- diejenigen, die von Armut, ungesicherter Zukunft, härteren
Zwängen,<br>
&nbsp; betroffen oder bedroht sind, auf der unteren Seite.<br>
<br>
</b>Wobei zu berücksichtigen ist, dass<br>
a) die &quot;Prekarisierung&quot; zwar einerseits immer weitere Kreise
zieht, dass<br>
also immer größere Bevölkerungsgruppen sich irgendwie
verunsichert oder<br>
&quot;prekarisiert&quot; fühlen, &quot;Angst vor dem Absturz&quot;
(Ehrenreich) haben, dass es<br>
aber<br>
b) nach wie vor eine Schichtung gibt, also substanzielle Unterschiede
im<br>
Versorgtsein zwischen Leuten, die sich z.B., getragen von einem
stabilen<br>
Netzwerk unterstützender Kontakte, von einem lukrativen Honorarjob
zum<br>
nächsten hangeln, auf der einen Seite, und Hartz-IV-Leuten oder
MigrantInnen<br>
ohne legalen Aufenthaltsstatus auf der anderen Seite.<br>
<br>
Was ist der Unterschied zwischen<br>
- Wolfgangs Auffassung einer Klasse von nicht verwertbaren Menschen,
und<br>
- meiner (an Gorz angelehnter) Auffassung einer Klasse leicht
ersetzbarer<br>
&nbsp; Lohnabhängiger:<br>
<br>
die nicht Verwertbaren sind tatsächlich und endgültig
überflüssig, sie<br>
wurden von der Ökonomie &quot;ausgeschieden&quot; (Analogie zur
Verdauung); ihr<br>
Schicksal ist von der Gnade, der Mildtätigkeit, dem real
existierenden<br>
Gemeinwohl abhängig. Dagegen sind die leicht Ersetzbaren, obwohl
auch sie<br>
von der Ökonomie ausgeschieden werden oder vom Ausscheiden bedroht
sind,<br>
dazu verurteilt, sich als Arbeitskraft zu &quot;recyceln&quot;, sie
haben in<br>
Konkurrenz gegen andere leicht Ersetzbare um ihre Verwertung zu
kämpfen.<br>
Entweder (bzw. an manchen Orten) wird dieser Kampf um Verwertung zu
einem</font></div>
<div><font face="Arial" size="+1" color="#000000">Kampf auf Leben und
Tod, oder (hierzulande) der Staat springt ein und</font></div>
<div><font face="Arial" size="+1" color="#000000">honoriert die
nachgewiesene Mühe beim Kampf um elende Jobs mit einem<br>
Almosen, aber eben nur dann, wenn die &quot;erwerbsfähige(n)
Hilfebedürftige(n)<br>
... alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer<br>
Hilfebedürftigekeit ausschöpfen&quot; (§2 SGB II), (oder wenn
sie sich als &quot;nicht<br>
erwerbsfähig&quot; diagnostizieren lassen - das wäre ein neues
Thema).<br>
Endgültig nicht verwertbar sind die wenigsten.<br>
<br>
Was unserer Arbeitsgesellschaft zur Zeit ein neues Gesicht gibt, ist
die Dynamik der Verschärfung des Lohnzwanges, die Pflicht zur
Konkurrenz. Angstgetrieben,<br>
nach dem Motto, rette sich wer kann, drängeln sich die leicht
Ersetzbaren um<br>
immer weniger Jobs, erfinden neue Jobs, neue Wege der Verwertung
ihrer<br>
selbst, sind sich für nichts mehr zu schade und werden immer
diensteifriger,<br>
denn sie wissen: unverdientes Einkommen gibt es nicht mehr, Einkommen
gibt<br>
es nur noch als Lohn, und der Lohn reicht nicht mehr für alle.<br>
Dieser Unsinn findet in einer Welt statt, die so reich ist wie nie
zuvor. Um<br>
ALLE vor Hunger zu bewahren, genügen 0,25 % des BIP (Rolf
Künnemann: Basic<br>
food income - option or obligation, kuennemann@fian.org,<br>
http://www.fian.org/fian/index.php?option=com_doclight&amp;task=detai<span
></span>ls&amp;Itemid=100&amp;dl_docID=43).<br>
<br>
<b>U. a. auch deshalb plädiere ich weiter dafür, in
unterschiedlichen Gruppen,<br>
Schichten, politischen Lagern und gesellschaftlichen Klassen für
ein<br>
a) unmittelbar lebensrettendes und<br>
b) perspektivisch vom Zwang zur Verwertung befreiendes (also
möglichst bedingungsloses) Grundeinkommen zu werben und Verbündete
zu finden.<br>
<br>
</b>Robert Ulmer, 09.07.05</font><br>
</div>
</body>
</html>