[imc-presse] Kommuniqué zum schriftlichen Urteil

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Wed Nov 4 07:33:13 CET 2015


Liebe Presse,

nun ist es rechtskräftig: Wir haben en Prozess gewonnen. Anstelle einer
Presseerklärung finden Sie ein ausgiebiges Kommuniqué im Fließtext
dieser Mail und auf unserem Blog.

Für Rückfragen stehen wir selbstverständlich zur Verfügung. Kontaktdaten
stehen unten.

mit freundlichen Grüßen
Alex Funk für den AK Spitzelklage

Heidelberg, den 03.11.2015

Kommuniqué des Arbeitskreises Spitzelklage Heidelberg zum schriftlichen
Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe: Der Einsatz des Polizeibeamten
Simon Bromma als Verdeckter Ermittler war formal und materiell rechtswidrig!

Sieben vom Einsatz des Verdeckten Ermittlers (VE) Simon Bromma
betroffene Personen aus Heidelberg hatten am 08.08.2011
Fortsetzungsfeststellungsklage beim Verwaltungsgericht Karlsruhe (VG KA)
erhoben, um dort diese weit reichende polizeiliche Repressionsmaßnahme
für rechtswidrig erklären zu lassen. Mehr als vier Jahre später hatte
nun am 26.08.2015 vor diesem Gericht die von starkem medialen Interesse
begleitete Hauptverhandlung in Sachen Spitzel-Skandal stattgefunden; auf
der einen Seite die Kläger*innen mit ihrem prozessbevollmächtigten
Rechtsanwalt Martin Heiming, auf der anderen Seite das beklagte
Bundesland Baden-Württemberg (vertreten durch das Polizeipräsidium
Mannheim). Nochmals zwei Monate später hat nun die an der
Verwaltungsrechtssache Beteiligten das schriftliche Urteil erreicht:
Darin beschließt die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Karlsruhe, dass
der gegen alle Kläger*innen „gerichtete Einsatz des Polizeibeamten Simon
Bromma als Verdeckter Ermittler mit dem Decknamen Simon Brenner in der
Zeit von - mindestens - April 2010 bis zum 12.12.2010“ formal und
materiell rechtswidrig war und der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu
tragen habe. Damit ist den Klagen vollumfänglich stattgegeben worden.

Das VG KA sah es nicht nur als erwiesen an, dass die von der
Polizeidirektion Heidelberg erlassene Einsatzanordnung auf § 22
Polizeigesetz Baden-Württemberg („Besondere Mittel der Datenerhebung“)
schon allein aus formalen Gründen nicht in Anschlag hätte gebracht
werden dürfen, sondern auch, dass die vom beklagten Land vorgelegten,
per innenministerialer Sperrung zu großen Teilen geschwärzten Unterlagen
in keiner Weise die Annahme rechtfertigen, dass von der ebenfalls
klagenden Zielperson des Spitzel-Einsatzes „eine Gefahr für Leben,
Gesundheit und Freiheit einer Person oder für bedeutende fremde Sach-
und Vermögenswerte“ ausgegangen sei oder in Zukunft ausgehen werde. Laut
VG KA fehle es nicht nur „an der hinreichenden Bestimmtheit hinsichtlich
des eingesetzten Mittels“, das methodisch über das
baden-württembergische Polizeigesetz geregelt werde, sondern auch an
„konkreten Feststellungen zu der behaupteten Gewaltbereitschaft der
Antifaschistischen Initiative Heidelberg“, zu deren „Führungspersonen“
die klagende Zielperson polizeibehördlich gezählt werde. Eine von diesem
Heidelberger Antifaschisten ausgehende „konkrete Gefahr“ lasse sich auch
nicht aus allen anderen in der Einsatzanordnung vorgebrachten Hinweisen
ableiten. Voraussetzungen für eine „Datenerhebung“ nach § 22 Abs. 3 Nr.
2 PolG, also zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher
Bedeutung, lägen demnach definitiv nicht vor.

Auch die Klagen der weiteren sechs Kläger*innen, die im Gegensatz zur
Zielperson in der Heidelberger Einsatzanordnung namentlich nicht
aufgeführt worden seien, erachtete das VG KA unter Vorsitz von Richterin
Mayer für zulässig und begründet. Der VE habe - nach Anhörung der
Betroffenen vor der Kammer - nachweislich „intensiven Kontakt“ zu diesen
Personen gehabt und über sie „persönliche Daten erhoben und an das
Landeskriminalamt weitergegeben“. Laut Pressemitteilung des VG KA vom
29.10.2015 sei „der darin zu sehende Grundrechtseingriff ... mangels
Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen“.

Dieses auf allen beklagten Ebenen eindeutige Urteil stellt vor allem für
die Kläger*innen, aber auch für alle, die sich in den letzten Jahren
solidarisch mit ihnen erklärt und öffentlichkeitswirksame
Unterstützungsarbeit geleistet haben, einen Sieg auf ganzer Linie dar.

Die Heidelberger Polizeibehörde mutierte hier zur politischen Akteurin,
die unter umfassender Anwendung personalisierter geheimdienstlicher
Methoden „Aufhellungsarbeiten“ in der antifaschistischen Szene
durchführte. Das VG KA hat mit enormem Nachdruck festgehalten, dass sich
der Polizeiapparat hier in einen von Willkürmaßnahmen geprägten
rechtsfreien Raum begeben habe. Die im demokratischen Rechtsstaat BRD
verbürgten Grundrechte einer sehr großen Anzahl von Menschen sind für
einen bedeutenden Zeitraum ausgehebelt worden - und das ohne das Wissen
der Betroffenen! Insbesondere waren dies in erheblichem Maße die
Grundrechte auf Achtung der Menschenwürde, der Willens- und
Handlungsfreiheit und der informationellen Selbstbestimmung, der freien
Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der
Unverletzlichkeit der Wohnung.

Das VG KA ist darüber hinaus der Meinung, dass sich aus den ihm
vorliegenden Kopien der Einsatzanordnung mit bestem Willen nicht
„herauslesen“ lasse, wie viele Verdeckte Ermittler*innen (VE) denn
überhaupt im Zeitraum zwischen November 2009 und Dezember 2010 in
Heidelberg und Umgebung eingesetzt und ob die dabei in umfassendem Maße
durchgeführten Ermittlungen ausschließlich von Polizeibeamt*innen
„bewerkstelligt“ worden seien. Dies bestätigt die bestehenden Zweifel,
außer dem bekannt gewordenen Fall könnten weitere Ermittler*innen im
Einsatz gewesen sein - oder noch immer sein. Ebenso wenig lassen sich
Verstrickungen mit dem Verfassungsschutz ausschließen. Beispielsweise
hat sich im neuesten VE-Einsatz-Skandal in Hamburg (Der Fall Maria
Böhmichen/Maria „Block“) mittlerweile herausgestellt, dass die in die
linke Szene der Hansestadt eingeschleuste Beamtin ihre Berichte
„automatisch“ auch beim Hamburgischen Verfassungsschutz abgeliefert und
so in eklatanter Weise gegen das Trennungsgebot verstoßen habe. Ohne es
auf einer gerichtsfesten Basis jemals feststellen lassen zu können,
müssen wir auch im Heidelberger Fall davon ausgehen, dass Simon Bromma
auch den baden-württembergischen Inlandsgeheimdienst datentechnisch
„beliefert“ hat.

Die rigorose Blockadepolitik der grün-roten Landesregierung, des
sozialdemokratisch geführten Innenministeriums (unter Reinhold Gall) und
des reaktionären Polizeipräsidiums Mannheim muss spätestens jetzt ein
Ende haben. Alle Betroffenen müssen erfahren, in welchem Ausmaß ihre
Grund- und Persönlichkeitsrechte mit Füßen getreten wurden und wo die
über sie gesammelten Daten gelandet sind. Die Sperrung der Akten durch
das baden-württembergische Innenministerium muss zurückgenommen werden.
Wenngleich das Urteil des VG KA für die Betroffenen eine große
rehabilitierende Wirkung hat, kann es nur einen ersten unvollkommenen
juristischen Ausgleich darstellen. Von diesem in seiner Deutlichkeit
doch überraschenden VG-Urteil geht aber nichtsdestotrotz ein klares
politisches Signal aus: Die zunehmende staatliche Überwachung der
Gesellschaft und insbesondere der politisch aktiven Zusammenhänge hat
eine Dimension erreicht, die mit den Grundrechten einer vermeintlich
„freien Gesellschaft“ nicht mehr in Einklang zu bringen ist und selbst
das Koordinatensystem des „wehrhaft-demokratischen“ Institutionengefüges
in massive Schieflage bringt. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, dass
so etwas in Zukunft nicht mehr möglich ist.

Vor dem Hintergrund der nunmehr gerichtsfesten Rechtswidrigkeit des
offensichtlich politisch motivierten Polizeieinsatzes in Heidelberg
erwartet der Arbeitskreis Spitzelklage (AKS) nun nicht nur eine
öffentliche Stellungnahme des baden-württembergischen Innenministeriums,
das sich zur Legitimierung ihrer Sperrerklärung vom Dezember 2011 (nach
§ 99 VwGO) eine besonders schwere Bedrohung des „Rechtsfriedens“ und
sogar die Herausbildung einer terroristischen Vereinigung herbei
halluziniert hatte, sondern auch personelle Konsequenzen bei der den
Einsatz anordnenden Heidelberger Polizei. Seit dem 29. Oktober 2015
haben wir es schwarz auf weiß: Der Leitende Kriminaldirektor Bernd Fuchs
hat eine formal und materiell rechtswidrige polizeiliche Maßnahme in die
Wege geleitet, um sich qua erhoffter Kriminalisierung einer aus seiner
Sicht politisch missliebigen Antifa-Szene zu entledigen; bei der
Heidelberger Staatsschutzabteilung der Kriminalpolizei sind von Simon
Bromma „gewonnene“ Daten über eine große Anzahl von Menschen aus der
gesamten linken Szene abgelegt worden, mit denen sich detaillierte
Bewegungsprofile erstellen ließen; der seit 2009 für politische Aufzüge
zuständige Leiter des Reviers Mitte, Polizeioberrat Christian Zacherle,
hat - bestätigt auch durch die vor mehr als 20 Menschen getroffenen
Aussagen des Polizeibeamten mit dem Decknamen „Brenner“ am 12.12.2010 in
der Heidelberger Altstadt - nachweislich mindestens einen größeren
Einsatz mit Simon Bromma abgesprochen - und zwar jenen beim so genannten
Heldengedenken auf dem so genannten Ehrenfriedhof in Heidelberg, als am
14.11.2010 ein martialisches Polizeiaufgebot jeglichen
antifaschistischen Widerstand dagegen bereits im Keim erstickte.

Für den AKS ist das Urteil ein Sack Sand im Getriebe des
Repressionsapparats, der sich für allmächtig hält und seine Befugnisse
im Verborgenen immer weiter ausbaut. Nur durch Zufall wurde die
polizeibehördliche Ausforschungs- und Kriminalisierungsmaßnahme
aufgedeckt, und nur der Geduld und Beharrlichkeit der sieben
Kläger*innen ist es zu verdanken, dass der Spitzel-Einsatz
verwaltungsgerichtlich für unrechtmäßig erklärt wurde. Der AKS dankt
nochmals allen, die vom Zeitpunkt der Enttarnung an über mehrere Jahre
hinweg ihre Solidarität mit den Betroffenen gezeigt und permanent
wertvolle Unterstützungsarbeit auf vielen Ebenen geleistet haben. Ohne
diese solidarischen Menschen hätte dieser Sieg vor Gericht nicht
errungen werden können. Auch künftig wird sich der Arbeitskreis
Spitzelklage Heidelberg gegen den Einsatz Verdeckter Ermittler*innen und
die Überwachung linker Aktivist*innen einsetzen - eine dringende
Notwendigkeit, wie die immer wieder bekannt werdenden Fälle von
unrechtmäßigen Spitzel-Einsätzen zeigen.

Für eine umfassende Aufklärung des Spitzeleinsatzes in Heidelberg!
Solidarität mit allen von Bespitzelung betroffenen linken Aktivist*innen!

Arbeitskreis Spitzelklage Heidelberg [spitzelklage.blogsport.de]


Weitere Informationen zum Fall erhalten Sie auf
spitzelklage.blogsport.de.
Oder wenden Sie sich direkt an den AK Spitzelklage:

Ansprechpartner: Michael Dandl
Telefon: 01629154917
ak-spitzelklage at riseup.net


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