[imc-presse] GERÄT DER LÖSUNGSPROZESS INS STOCKEN? Die türkische Regierung kommt ihren Aufgaben im Lösungsprozess nicht nach

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Sat Jun 22 00:37:21 CEST 2013


GERÄT DER LÖSUNGSPROZESS INS STOCKEN?

 

Die türkische Regierung kommt ihren Aufgaben im Lösungsprozess nicht nach

 

von Mako Qocgiri, Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für
Öffentlichkeitsarbeit e.V., 21.06.2013.

 

Auf den Tag genau vor drei Monaten wurde der Aufruf des auf der
Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vor über
einer Million Menschen in Amed vorgetragen. Die türkischen Fernsehsender
trugen die Message per Liveübertragung auch in die Wohnzimmer der türkischen
Haushalte, und selbst in den internationalen Medien fand die Ansprache
Öcalans breiten Widerhall.

Öcalan verkündete „Heute beginnt einen neue Ära “ und „Eine Tür öffnet sich
von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen
Politik“. Vor dem Newrozfest hatte Öcalan erneut monatelang mit Mitgliedern
des türkischen Geheimdiensts, die im Auftrag der AKP-Regierung bei ihm
waren, Gespräche und Verhandlungen geführt. Auch mit Delegationen der Partei
für Frieden und Demokratie (BDP) führte Öcalan lange Gespräche. Über die
BDP-Delegationen gab es auch einen Briefverkehr zwischen Imrali und der
PKK-Führung auf den Kandilbergen. 

Aus dem regen Dialogverkehr rund um die Gefängnisinsel Imrali entwickelte
sich erneut die Hoffnung auf eine Lösung der drängendsten Frage der Türkei.
Durch die Initiative Abdullah Öcalans wurde die Tür hierfür aufgestoßen. Nun
mussten die PKK, die BDP und die türkische Regierung die Initiative
ergreifen. Doch was ist in den vergangenen drei Monaten für die Lösung
geschehen? Wer hat was gemacht? Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz.

Erste Stufe des Lösungsprozesses – Die PKK erfüllt ihre Aufgaben

Öcalans Vorschlag für den Lösungsprozess sieht drei Schritte vor. Für die
kurdische Seite richtet sich ihr Verhalten nach der von Öcalan verkündeten
Roadmap und auch die türkische Regierung hat bislang keine ablehnende
Haltung gegen Öcalans Vorschlag geäußert. Im Gegenteil, denn Öcalan hatte
die Roadmap für Verhandlungen bereits während des damals gescheiterten
Dialogprozesses zwischen ihm und dem Staat im Zeitraum von 2009 und 2011 zu
Papier gebracht und damals hatte der Sonderbevollmächtigte von
Ministerpräsident Erdogan, Hakan Fidan, geäußert, dass Erdogan zu 90-95% mit
der Roadmap Öcalans konform geht.

Der „Demokratische Lösungsplan“ Öcalans sieht in der ersten Stufe zunächst
ein beidseitiges Schweigen der Waffen vor. Um zu verdeutlichen, dass die
kurdische Seite es mit diesem Prozess ernst meint, hat er gar darum gebeten,
dass die Guerillakräfte sich aus den Gebieten Nordkurdistans zurückziehen.
Die PKK folgte der Aufforderung ihres Vorsitzenden und verkündete am 8.Mai,
dass sie mit dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte beginnen wird. Auch wenn
der Rückzug im vollen Gange ist, wird er sich aufgrund der zum Teil großen
Distanz zur Grenze nach Südkurdistan (Nordirak) bis in den Herbst
hineinziehen. Doch die Waffen der kurdischen Seite schweigen. Und abgesehen
von einigen militärischen Aktionen der türkischen Seite ist es bisher auch
zu keiner schwerwiegenden bewaffneten Auseinandersetzung zwischen beiden
Seiten gekommen. Da der bewaffnete Kampf zur Ruhe gekommen ist, sollte es
mit der zweiten Stufe des Lösungsplans weitergehen.

Zweite Stufe des Lösungsprozesses – Wenig Bewegung aufseiten der Regierung

Musste bei der ersten Stufe die PKK ihrer Verantwortung für einen
Lösungsprozess gerecht werden, so muss in der zweiten Stufe vor allem die
türkische Regierung ihren Friedens- und Lösungswillen unter Beweis stellen.
Nachdem die kurdische Seite ihrerseits durch den Rückzug ihrer Kräfte den
Weg für eine politische Lösung geräumt hat, soll nun die türkische Regierung
dasselbe tun. Doch daran hapert es derzeit. So erklärt, der
KCK-Exekutivratsvorsitzende Murat Karayilan, dass der türkische Staat mit
seiner derzeitigen Haltung den Prozess sabotiert. Auch der BDP
Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas machte vor dem Hintergrund der Reaktion
der AKP-Regierung auf die Demokratiebewegung im Land, die durch die Proteste
rund um den Gezi Park ausgelöst worden sind, dass mit der derzeitigen
Mentalität der Regierung keine Lösung erzielt werden kann. Auch sonst bewegt
sich die AKP derzeit herzlich wenig auf die kurdische Seite zu. Im Rahmen
der zweiten Stufe stellt die kurdische Bewegung noch vor den Diskussionen um
eine neue Verfassung, welche zur vollständigen Lösung der kurdischen Frage
und zur Demokratisierung der Türkei beitragen soll, die folgenden dringenden
Forderungen in Richtung AKP, damit der Lösungsprozess voranschreiten kann:

• Aufhebung der Isolationsbedingungen von Abdullah Öcalan

Abdullah Öcalan ist auf der kurdischen Seite der wichtigste Akteur im
gegenwärtigen Lösungsprozess. Die kurdische Freiheitsbewegung und der größte
Teil der kurdischen Bevölkerung hat vollstes Vertrauen in seine Person.
Damit der gegenwärtige Prozess auf einer gesunden Basis voranschreiten kann,
bedarf es deshalb Kommunikationswege zwischen Öcalan und den Organisationen
der kurdischen Freiheitsbewegung. Hierfür müssen die Isolationsbedingungen
Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali aufgehoben werden.

• Militärische Aktivitäten vollständig einstellen

Zwar hat auch das türkische Militär nach Ankündigung des Rückzugs der
kurdischen Guerillakräfte ihre militärischen Aktivitäten deutlich
zurückgeschraubt, komplett eingestellt haben sie diese allerdings noch
nicht. So berichten die ersten Guerillagruppen, die bereits im Rahmen des
Rückzugs die von der PKK kontrollierten Gebiete in Südkurdistan erreicht
haben, dass sich der Rückzug durch die militärischen Bewegungen der
türkischen Armee erschwert und verzögert haben. Sie berichten, dass sie
große Mühen aufbringen mussten, um Gefechtssituationen, die zu einem Abbruch
des Prozesses führen könnten, zu vermeiden. Neben den Truppenbewegungen hat
die türkische Armee auch ihre Drohnenflüge über den Gebieten der PKK nicht
eingestellt. Dies wird von der kurdischen Seite als eine provokative Haltung
gegen einen Lösungsprozess gewertet.

• Keine neuen Dorfschützer und Militärkasernen

Irritierend, wenn man von einem Lösungsprozess spricht, wirken auch die
Ankündigungen auf türkischer Seite, dass neue Militärkasernen in den
kurdischen Regionen errichtet und neue Dorfschützerverbände eingestellt
werden sollen. Diese Ankündigungen zeugen eher von einer
Kriegsmobilisierung. Die kurdische Bewegung stellt sich nicht allein gegen
die Ankündigungen, sondern sie fordert auch, dass alle Dorfschützer
entlassen und die Zahl der Militärkasernen im Sinne einer friedlichen
Zukunft deutlich vermindert werden müssen.

• Haftentlassungen für KCK-Gefangene und kranke Inhaftierte

Die KCK Festnahmewellen sind noch sehr frisch in der Erinnerung der
kurdischen Gesellschaft. Ab April 2009 wurden fast täglich Dutzende
kurdische politische AktivistInnen bei Razzien und Hausdurchsuchungen
festgenommen. Die kurdische Seite bezeichnete diese Operationen, durch die
zeitweise bis zu 10.000 Menschen verhaftet wurden, als politischen Genozid.
Die meisten Verfahren gegen die KCK-Gefangenen dauern gegenwärtig noch an.
Die Forderung der kurdischen Seite lautet klar und deutlich, dass diese
Menschen aus der Haft entlassen werden müssen. Will man den politischen Raum
in der Türkei öffnen, müssen die politischen AktivistInnen der kurdischen
Seite auch in Freiheit sein.

Auch die Situation der kranken Inhaftierten steht weit oben auf der
Tagesordnung der kurdischen Seite. Gegenwärtig befinden sich 411 kranke
Gefangene, von denen sich 122 an der Schwelle zum Tod befinden, (Quelle:
IHD, Stand 7.Juni) in den türkischen Gefängnissen. Die Forderung nach
Haftverschonung für diese Menschen stößt derzeit auf taube Ohren des
türkischen Justizministeriums.

Wie weiter?

Beim letzten Besuch der BDP-Delegation bei Abdullah Öcalan auf Imrali am
07.Juni kündigte Selahattin Demirtas an, dass Öcalan in den nächsten 15
Tagen eine ausführliche Stellungnahme zum gegenwärtigen Stand im
Lösungsprozess verkünden will. Diese Erklärung müsste also in den kommenden
Tagen an die Öffentlichkeit gelangen, doch dieser Tage hat das
Justizministerium noch keine Besuchserlaubnis für eine BDP-Delegation bei
Öcalan ausgestellt. Sicherlich wird bei der Bewertung Öcalans die
antidemokratische Haltung der AKP-Regierung bei den Gezi Aufständen eine
wichtige Rolle spielen. Denn schließlich sieht die kurdische Seite im Rahmen
eines Lösungsprozesses eine weitgehende Demokratisierung der Türkei vor. Wie
weit die jetzige türkische Regierung aber davon entfernt ist, hat sie durch
ihren Umgang mit den landesweiten Protesten der ganzen Welt eindrucksvoll
unter Beweis gestellt.

Um die Demokratisierung der Türkei wird es bei den Diskussionen um eine neue
Verfassung gehen, die ebenfalls Teil des zweiten Schrittes des
Lösungsprozesses sind. Aber sollten die oben genannten Forderungen nicht
erfüllt werden, wird es vermutlich zu diesen Diskussionen gar nicht erst
kommen. Am 20. Juni haben sich zwar Mitglieder der BDP-Fraktion und der
Regierungsvertreter bezüglich der dringenden Forderungen zusammengesetzt.
Doch wenn man die Aussagen des BDP Co-Vorsitzenden Demirtas nach dem Treffen
liest, scheint auch hier nicht der große Sprung im Lösungsprozess erreicht
worden zu sein.

Reißt sich die türkische Regierung nicht zusammen, droht sie erneut eine
historische Gelegenheit für die Lösung der kurdischen Frage aus der Hand zu
geben. Abschließen möchte ich mit einem Zitat des
KCK-Exekutivratsvorsitzenden Murat Karayilan, in welchem er unterstreicht,
wer die Verantwortung für ein mögliches Scheitern des Prozesses trägt:

„Wir sagen offen und ehrlich: Wenn der Staat und die Regierung die kurdische
Frage lösen wollen, müssen sie ernsthaft handeln. Es ist die Zeit
praktischer Schritte. Wenn sie das nicht tun, wird der Prozess ins Stocken
geraten. Und wenn er dann schließlich stoppt, ist der Staat allein dafür
verantwortlich. Von nun an hängt der Prozess vom Verhalten der AKP-Regierung
ab. Wir haben nämlich alles getan, was wir bisher im Rahmen einer Lösung tun
können. Und wenn der Staat nicht darauf reagiert, müssen wir die Situation
überdenken und unser weiteres Vorgehen neu bestimmen.“

 

***

 

Treffen von BDPlern mit Regierungsvertretern

 

Nach der Kritik von Abdullah Öcalan, der Gemeinschaft der Gesellschaften
Kurdistans KCK und der Partei für Frieden und Demokratie BDP an den
fehlenden Schritten der Regierung, die zum Beginn der zweiten Etappe des
Lösungsprozesses eingeleitet werden müssten, wurden nun in Ankara mehrere
Gespräche geführt. Gestern ist eine BDP-Delegation mit dem Staatsminister
Besir Atalay und dem Justizminister Sadullah Ergin zusammengekommen. Auch
sind die BDPler gestern im Parlament mit dem Vorsitzenden und Vertretern der
Kommission der Weisen zusammengekommen. Es ist bekannt, dass aus der BDP der
Kovorsitzende Selahattin Demirtas, der Parlamentssprecher Idris Bauken und
der Amed-Abgeordnete Altan Tan und auf Seiten der Kommission der Weisen Can
Paker, Yilmaz Ensaroglu, Ahmet Tasgetiren, Tarik Çelenk, Mithat Sancar und
Yusuf Sevki Hakyemez teilgenommen haben. Das gegenüber der Öffentlichkeit
geschlossene Treffen dauerte circa zwei Stunden.

 

Es gibt Vorbereitungen der Regierung

Nach dem Treffen gab der BDP-Gruppensprecher Baluken, gegenüber der Presse
eine Erklärung zum Treffen mit der Kommission ab. Die Regierung habe
erklärt, dass es auch von ihrer Seite Arbeiten zur Verfassung gebe, dazu
aber keine Details mitteile. In den kommenden Tagen werde es wieder Treffen
mit Regierungsvertretern geben.

 

Imrali-Blockade muss aufgehoben werden

In den Gesprächen mit der Regierung habe man auch erklärt, dass die
Haftbedingungen für Öcalan verbessert werden müssen. So müssten ihn
Delegationen besuchen können, wie z. B. die parlamentarische
Lösungskommission, die Kommission der Weisen, zivilgesellschaftlichen
Organisationen und politische Parteien. Es sei für die Verhandlungsphase
sehr schlecht, dass die einzige Verbindung Öcalans zur Außenwelt die
BDP-Delegationen darstelle. Die Regierungsvertreter erklärten, dass man
diesen Punkt bewerten werde.

 

Quelle: Yeni Özgür Politika, 21.06.2013, ISKU

 

***

 

"DER STAAT SABOTIERT DEN PROZESS"

 

Murat Karayilan, Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der
Gesellschaften Kurdistans (KCK), bewertete in einem Interview mit der
Nachrichtenagentur Firat (ANF) die neusten Entwicklungen in der Türkei und
Kurdistan wie auch den gegenwärtigen Friedensprozess.

 

Weiterlesen:
http://civaka-azad.org/index.php/426-karayilan-der-staat-sabotiert-den-proze
ss.html

***

 

MIT DIESER MENTALITÄT DER REGIERUNG KANN DER PROZESS NICHT WEITER GEHEN

 

BDP-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtas zur Einschätzung des aktuellen
Lösungsprozesses

 

Weiterlesen:
http://civaka-azad.org/index.php/425-demirtas-mit-dieser-mentalitaet-der-reg
ierung-kann-der-prozess-nicht-weiter-gehen.html

 

***

 

 

Quelle: Yeni Özgür Politika, 21.06.2013, ISKU

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