[imc-presse] [attac-d-presse] Offener Brief von 36 NGOs: Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen

Frauke Distelrath presse at attac.de
Wed Jun 27 11:17:45 CEST 2012


Pressemitteilung
Attac Deutschland
ROBIN WOOD

27. Juni 2012


* Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen

* 36 NGOs kritisieren geplantes Steuergesetz 2013 / Offener Brief an
Bundestagsabgeordnete

Zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich gegen ein
Gesetzesvorhaben gewandt, das dem Verfassungsschutz ermöglichen würde,
de facto über den Fortbestand gemeinnütziger Organisationen zu
entscheiden. Sie forderten die Bundestagsabgeordneten jetzt in einem
offenen Brief auf, dem Steuergesetz 2013, das morgen in erster Lesung im
Parlament debattiert wird, ihre Zustimmung zu verweigern
(http://kurzlink.de/Brief_MdBs). Mit dem vorgelegten Gesetz will die
Bundesregierung die Abgabenordnung (AO) so ändern, dass Organisationen,
die in einem Verfassungsschutzbericht im Zusammenhang mit Extremismus
genannt werden, die Gemeinnützigkeit ohne Prüfung entzogen wird (§ 51,
Absatz 3, AO).

Initiatoren des offenen Briefes sind das globalisierungskritische
Netzwerk Attac und die Umweltschutzorganisation Robin Wood. Zu den 36
Unterzeichnenden gehören unter anderem die Humanistische Union,
Greenpeace, Medico International, der BUND, Pro Asyl, Lobby Control und
das Komitee für Grundrechte und Demokratie.

"In den jährlich 17 Verfassungsschutzberichten von Bund und Ländern sind
schon viele Organisationen aufgetaucht, ohne dass es konsistente
Kriterien dafür gäbe", sagte Jutta Sundermann von Attac. "Das Problem
beginnt bereits beim Begriff 'Extremismus'. Mehrere Gutachten, darunter
eines vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, haben festgestellt,
dass die vom Verfassungsschutz verwendete Bezeichnung 'Extremismus' kein
definierter Rechtsbegriff ist. Er wird in keinem einzigen Gesetzestext
verwendet – mit Ausnahme der Abgabenordnung!"

Daniel Häfner von Robin Wood ergänzte: "Betroffene Organisationen würden
nicht einmal angehört. Der Verfassungsschutz wäre damit Kläger und
Richter zugleich – und müsste nicht einmal seine Quellen offenlegen. Das
widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien und würde dem
Verfassungsschutz eine inakzeptable Macht über einen wichtigen Teil der
Zivilgesellschaft geben."

Der Verlust der Gemeinnützigkeit würde für viele Organisationen das Aus
bedeuten: Spenden an sie wären nicht mehr steuerlich absetzbar, die
Befreiung von der Körperschaftssteuer wäre aufgehoben, und unter
Umständen würden hohe Steuernachforderungen fällig.

Die geplante Änderung verschärft eine Regelung, die erst 2009 in die
Abgabenordnung aufgenommen wurde. Dazu Jutta Sundermann: "Schon da hat
sich gezeigt, dass die rechtliche Auseinandersetzung um die
Gemeinnützigkeit im Einzelfall länger dauert, als eine betroffene
Organisation unter erschwerten Bedingungen finanziell überleben kann."

Deshalb fordern die Unterzeichner des Briefes, den betreffenden
Paragrafen ganz aus der Abgabenordnung zu streichen.


Offener Brief mit Liste der unterzeichnenden Organisationen:
http://kurzlink.de/Brief_MdBs


Für Rückfragen:

* Jutta Sundermann, Attac Deutschland, Tel. 0175 – 86 66 769

* Daniel Häfner, Robin Wood, Tel. 0179 – 67 19 016


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OFFENER BRIEF
zur 1. Lesung des Jahressteuergesetzes 2013 am 28.06.2012 im Deutschen
Bundestag



Verfassungsschutz und Gemeinnützigkeit zivilgesellschaftlicher
Organisationen



26. Juni 2012


Sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Bundestags,

am 28. Juni wird das Jahressteuergesetz 2013 in erster Lesung im Plenum
des Deutschen Bundestages debattiert. In diesem Zusammenhang möchten
wir, verschiedene als gemeinnützig anerkannte und bundesweit arbeitende
Nichtregierungsorganisationen, Sie auf eine Klausel in der
Abgabenordnung (AO) aufmerksam machen, die durch das vorgelegte Gesetz
geändert werden soll. Diese neue Klausel würde dem Verfassungs¬schutz
ermöglichen, ohne Anhörung der Betroffenen, faktisch über den
Fortbestand und die Exis¬tenz einzelner gemeinnütziger Organisationen zu
entscheiden (§ 51 Abs. 3 AO). Dies würde ekla¬tant gegen
rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen.

Wir rufen Sie dazu auf, Ihre Stimme dem Gesetzesvorhaben zu verwehren
und sich darüber hinaus für die ersatzlose Streichung des § 51 Abs. 3 AO
einzusetzen!


Erläuterung

In § 51 Abs. 3 AO heißt es seit 2009 in Satz 3 in Bezug auf die
Voraussetzungen der Steuerbegünstigung: „Bei Körperschaften, die im
Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische
Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die
Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllt sind.“

Durch die in der Gesetzesvorlage vorgesehene Streichung des Wortes
‚widerlegbar‘ würde, bei (auch unbestimmter) Nennung einer als
gemeinnützig anerkannten Organisation in einem der 17 jährlich
veröffentlichten Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder,
bei den Finanzämtern der Automatismus einer Versagung der
Steuervergünstigungen ausgelöst. Der bisherige Ermessensspielraum der
Finanzämter vor Ort entfiele ebenso wie die Möglichkeit der betroffenen
Organisation, bei Finanzgerichten Rechtsschutz zu su¬chen.

Der 2009 eingeführte § 51 Abs. 3 AO bewegt sich generell in einer
juristischen Grauzone, da der verwendete Begriff ‚Extremismus‘ ein
unbestimmter Rechtsbegriff ist. Dies eröffnet der Willkür Tür und Tor
(siehe Anlage). Jüngst haben mehrere Gutachten, darunter eines vom
Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, festgestellt, dass die vom
Verfassungsschutz verwendete Bezeichnung ‚Extremismus‘ kein definierter
Rechtsbegriff ist. Dementsprechend wird er in keinem einzigen
Gesetzestext verwendet - mit Ausnahme der AO seit 2009. Hinzu kommt,
dass die Erwähnung von Organisationen in den Verfassungsschutzberichten
keinen konsistent definierten Kriterien folgt.

Laut Bundesverfassungsgericht ist die Bezeichnung ‚extremistisch‘
ausdrücklich "eine Frage des politischen Meinungskampfes und der
gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Sie steht in
unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und
gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen" (1 BvR
1106/08, 08.12.2010).

Es besteht zwar die Möglichkeit, gegen die Nennung im
Verfassungsschutzbericht vor dem Verwaltungsgericht zu klagen - was
bereits in vielen Fällen erfolgreich getan wurde. Aber solche Verfahren
ziehen sich oft über Jahre und brauchen finanzielle Ressourcen, die
einer Organisation durch den Entzug der Gemeinnützigkeit gerade genommen
werden. Ein solcher Entzug hätte zur Folge, dass eine Organisation zum
einen nicht länger von der Körperschaftssteuer befreit wäre und zum
anderen, dass Spenden an diese Organisation nicht mehr steuerlich
abgesetzt werden könnten. Durch eine bloße Erwähnung in einem der
Verfassungsschutzberichte könnte der VS also einen gemeinnützigen Verein
- umgehend und ohne weitere Anhörung der Betroffenen - in der Existenz
gefährden und der Insolvenz nahe bringen. Dies kann nicht Sinn und
Funktion der Regelungen zur Gemein¬nützigkeit sein. Bürgerschaftliches
Engagement und zivilgesellschaftliche Arbeit sind konstitutiv für unsere
demokratische Gesellschaft: Die Versagung von Gemeinnützigkeit
verhindert die Beteiligung an der Gestaltung unseres Gemeinwesens!

Daher fordern wir Sie auf, der geplanten Änderung des § 51 Abs. 3 AO
nicht zuzustimmen. Darüber hinaus muss der gesamte Absatz ersatzlos
gestrichen werden. Es gibt keinerlei Legitimation dafür, dass ein
Inlandsgeheimdienst über die Grenzen der demokratischen
Zivilgesellschaft bestimmen und einzelne zivilgesellschaftliche
Organisationen ohne feste Kriterien und ohne Anhörung der Betroffenen
oder Verfahren existenziell gefährden kann.

Mit freundlichen Grüßen



Erstunterzeichner:

.ausgestrahlt e.V.

Arbeitsgemeinschaft Schacht KONRAD e.V.

Attac Deutschland

Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER)

Bewegungsstiftung

Bremer entwicklungspolitisches Netzwerk (BEN)

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)

Campact e.V.

Christliche Initiative Romero (CIR)

Engagierte Wissenschaft e.V.

Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und
Menschenrechte in der Welt e.V. (EJDM)

FoeBuD e.V.

Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) e.V.

Greenpeace e.V.

Hamburgs aktive Jurastudierende

Humanistische Union e.V.

Informationsbüro Nicaragua e.V.

INKOTA-Netzwerk e.V.

Internationale Liga für Menschenrechte

Interkultureller Rat in Deutschland e.V.

JG Stadtmitte Jena

Komitee für Grundrechte und Demokratie

LobbyControl - Initiative für Transparenz und Demokratie

medico international

NaturFreunde Deutschlands

Netzwerk Friedenskooperative

Neue Richtervereinigung - Zusammenschluss von Richterinnen und
Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V. (NRV)

Ökumenisches Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V.

Pro Asyl

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.

ROBIN WOOD - Aktionsgemeinschaft für Natur und Umwelt e.V.

Soziokulturelles Zentrum Conne Island (Projekt Verein e.V.)

Städtepartnerschaftsverein Wuppertal-Matagalpa e.V.

urgewald e.V.

Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.

WEED - Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V.


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Gutachten und Kommentare:

Dr. Dirk Jeschke, Verstöße gegen die Rechtsordnung und Extremismus im
Gemeinnützigkeitsrecht. Zur neuen Regelung des § 51 Abs. 3 AO, in
Deutsches Steuerrecht 2009, S. 1669-1677.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (Regierungsdirektor Harald
Georgii), Bekenntnisklausel im Zuwendungsbereich, WD 3 – 3000 – 505/10.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Battis: Gutachten zur Zulässigkeit der
'Extremismusklausel' im Bundesprogramm 'Toleranz fördern – Kompetenz
stärken', Berlin 2010.

Prof. Dr. Dietrich Murswiek: Verfassungsschutz durch Information der
Öffentlichkeit – Zur Entwicklung der Verfassungsschutzberichte seit dem
JF-Beschluss, in: Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch
2009. Berlin 2009, S. 57-104.

Ron Steinke: Wer wird Verfassungsfeind? Zur 'freien' Deutungshoheit der
Verfassungsschutzämter, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 93 (2/2009), S.
47-52.

Liebscher, Doris: Wievielt Demokratie verträgt die fdgO? In:
Weiterdenken - Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen u.a. (Hg.): Ordung und
Unordnung (in) der Demokratie. Dresden 2011, S. 83-101.



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