[imc-presse] "Von Deeskalation kann keine Rede sein" - Hearing-Abschlusserklärung

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Wed Jun 27 21:14:17 CEST 2007


Von Deeskalation kann keine Rede sein
Parlamentarische Untersuchung des Polizeiverhaltens während des
G8-Gipfels gefordert

Berlin, 27.06.2007

Nach dem fünfstündigen Hearing "Was geschah in Heiligendamm?" erheben
die Veranstalter massive Vorwürfe gegen Polizei und Politik und fordern
Konsequenzen zur Bewahrung der Bürger- und Freiheitsrechte. Bei der
gestrigen Anhörung in den Räumen der Gewerkschaft ver.di in Berlin kamen
über 30 Zeuginnen und Zeugen zum Ablauf der G8-Protestwoche zu Wort.

Die Planung des Polizeieinsatzes war von Anfang an auf Eskalation
ausgelegt. Politische Zielvorgabe war die weiträumige und totale
Abschottung der Gipfelteilnehmer von ihren Kritikerinnen und Kinder.
Dabei kam es zu einer weit reichenden Außerkraftsetzung von
rechtsstaatlichen Schutzstandards und bürgerlichen Freiheitsrechten. Die
Folge war die Behinderung und Unterbindung von politischem Protest.

Die polizeiliche Sonderbehörde Kavala setzte diese Vorgaben in einem
obrigkeitsstaatlichen Einsatzkonzept um. Geheimdienste, Bundeswehr und
die Länderpolizeien wurden gegen das verfassungsrechtliche
Trennungsgebot in den Planungen und ihrer Umsetzung integriert.

Das Versammlungsrecht wurde mit den weiträumigen Demonstrationsverboten
schwer beschädigt. Den Demonstranten blieb es in Heiligendamm
überlassen, Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht zu verteidigen und
sich dazu auch über rechtswidrige Verbote hinwegzusetzen. Die unzähligen
polizeilichen Maßnahmen im Vorfeld, bei den Grenzkontrollen und der
Anreise, Schikanen gegenüber den Campenden, willkürliche Kontrollen und
Platzverweise verschärften die Einschüchterung weiter. Der
Datenschutzbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Karsten
Neumann, bezeichnete die massiven Datenerhebungen, die zu keinen
Verfahren führten, im Hearing zutreffend als "rechtswidrigen
Überwachungsdruck".

Die Behörde Kavala bediente sich der Propaganda und Provokation. Die
vielen gezielten Falschmeldungen z.B. über Vermummungen und Steinewerfer
in absolut friedfertigen Demonstrationen oder die angebliche
"Säureattacke" durch Clowns führten auch zur weiteren Aufladung des
Feindbildes bei den eingesetzten Beamten. Vielfach kam es zu
willkürlichen Übergriffen auf Demonstrierende. Eine Gruppe von
Fahrradfahrern wurde auf dem Heimweg ohne jeden Anlass mit Pfefferspray
und Schlagstöcken attackiert.

Mindestens zwei Personen erlitten schwere Augenverletzungen,
hervorgerufen durch den harten Strahl von Wasserwerfern. Dies muss nach
Ansicht der Veranstalter aufgeklärt werden und zu Strafverfahren führen.
Durch die eidesstattliche Versicherung eines Zeugen wurde beim Hearing
auch der gezielte Einsatz von Zivilbeamten als agents provocateurs
untermauert.

Deeskalation ging immer wieder von besonnenen Demonstrierenden aus -
nicht von der Polizei. Das gilt auch für die Auseinandersetzungen
während der Großdemonstration am Samstag, bei dem sich Hunderte an den
Straßenschlachten mit der Polizei beteiligt hatten und viele
Unbeteiligte durch prügelnde Polizei, Reizgas- und Wasserwerfereinsätze
an Leib und Leben bedroht waren. Ein Symbol dafür ist der vielfache
Einsatz der selbständig agierenden Beweis- und Festnahmeeinheiten (BFE),
die bei den Auseinandersetzungen am Rande der Rostocker
Großdemonstration maßgeblich beteiligt waren. Die Beruhigung kam erst
nach intensiven Bemühungen eigener Ordner und Demonstranten zustande.
Die Polizeieinheiten mussten mühselig (auch durch Kollegen) überzeugt
werden, deeskalierende Absprachen zwischen Demonstrationsleitung und
Polizeiführung einzuhalten.

Betont wurde beim Hearing, dass es durchaus besonnene Polizeiführer und
-einheiten gab, die sich korrekt, freundlich und deeskalierend
verhielten - und auch bei Kavala gegen unsinnige Befehle intervenierten.

Bei den Ingewahrsamnahmen und in den Gefangenensammelstellen wurde den
Betroffenen seitens Kavala systematisch der Rechtsbeistand verweigert.
Anwältinnen und Anwälte wurde der Zugang verweigert, obwohl die
Inhaftierten nach anwaltlicher Unterstützung verlangten. Dabei wurde das
Prinzip der Gewaltenteilung verletzt. Die Polizei bestimmte darüber, ob
Anwältinnen und Anwälte Zugang zu den in den Gefangenensammelstellen
tätigen Richtern gewährt wurde oder nicht. Die Richter waren mit einem
Schild "Kavala Justiz" gekennzeichnet. Sie präsentierten sich damit als
Teil der Exekutive.

Die rechtswidrige Ingewahrsamnahme unter fadenscheinigen Gründen war
kein Einzelfall, sondern die Regel. Die Situation in den
Gefangenensammelstellen war menschenunwürdig. Die oftmals tagelange
Unterbringung in Käfigen bei permanenter Überwachung und Beleuchtung,
die stundenlange Verzögerung der Freilassung trotz richterlichen
Beschlusses und die Durchsuchung der Inhaftierten unter völligem
Entkleiden verletzen die Menschenrechte von Gefangenen.

Die Veranstalter des Hearings fordern daher parlamentarische
Untersuchungsausschüsse zum Verhalten der Polizei. Es muss ermittelt
werden, wer für Planung und Einsatz bei Polizei, Bundeswehr und Politik
verantwortlich war. Darüber hinaus ist endlich eine durchgehende
Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte einzuführen, um die Polizei bei
rechtswidrigem Verhalten identifizieren zu können. Die Veranstalter
betonen, dass letztlich die Politik für die Wahrung der Freiheitsrechte
und ein rechtsstaatliches Vorgehen der Sicherheitsbehörden
verantwortlich ist. Wer von der Polizei einen absolut störungsfreien
G8-Gipfel ohne Wahrnehmung von Protest fordert, verlangt die Verletzung
der Verhältnismäßigkeit.

Ansprechpartner für die Veranstalter:

    * Manfred Stenner, Netzwerk Friedenskooperative, Tel. 0177-6014894
    * Matthias Monroy, Gipfelsoli Infogruppe, Tel. 0160-95314023
    * Michael Hiller, Rote Hilfe e.V., Tel. 0178-1489738
    * Peer Stolle, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein,
01577-4704760
    * Sven Giegold, Attac Deutschland, Tel. 0163-5957590


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