[SFB_disko] Kritik der Pressemitteilung des AK ELViS

wolfgang ratzel wolfgang.ratzel at arcor.de
Mit Jun 21 14:14:58 CEST 2006


Projekt Postmoderne Gesellschaftsordnung / Pol 
der Sorge  -  Berlin, den 21.6.2006
Ansprechpartner: Wolfgang Ratzel - geben-und-nehmen at arcor.de

An die Stop-Hartz-Liste und alle Interessierten,

Betr.: P R E S S E M I T T E I L U N G des AK ELViS  0 6—0 8  vom 17. Juni 2006
Homo sacer oder die “Beseitigung der Überflüssigen“

Mit Entsetzen habe ich die Pressemitteilung des 
AK ELViS (AK Erwerbslosenversammlung in 
Schöneberg) gelesen, die in dem Gedanken gipfelt, 
die Arbeitslosen seien die Juden des 21. 
Jahrhunderts, für die das Weltkapital eine 
adäquate Endlösung suche.
Den heutigen Herrschenden (Merkel, Hundt usw.) 
wird unterstellt, sie würden diejenigen, die 
nicht mehr verwertbar seien, “zum Abschuss" 
freigeben.
Dieses -bezogen auf die Industrieländer- derzeit 
paranoide Szenario soll durch Berufung u.a. auf 
Giorgio Agamben 'Seriösität' erlangen. Agamben 
soll nämlich die heutigen Arbeitslosen als 
'homines sacri' bezeichnet haben, die man töten 
kann, ohne bestraft zu werden.
(Wer die Pressemitteilung im Original lesen will, möge sich an mich wenden).

Die Gleichsetzung “Juden = Arbeitslose" bzw. 
“Judenvernichtung = Arbeitslosenvernichtung" ist 
nicht neu. Bereits im Vorfeld der Anti-Hartz 
IV-Proteste des Jahres 2004 wurde auf der 
Stop-Hartz-Liste vorgeschlagen, man solle an der 
Demo-Route ein NS-Arbeitslager inszenieren, um 
die Gleichsetzung der “Arbeitspflicht gemäß SGB 
II" mit der “Vernichtung durch Arbeit in den 
NS-Konzentrationslagern" anschaulich zu machen. 
Neu ist allerdings, dass der AK ELViS diese 
Gleichsetzung Juden = Arbeitslose in keiner Weise 
begründet. Es dürfte offensichtlich sein, dass 
die immer noch 
dürftig-bis-auskömmlich-grundgesicherten 
deutschen Erwerbslosen, die deutsche Staatsbürger 
sind und auf den JobCentern in der Regel 
rechtsstaatlich behandelt werden, nicht 
verglichen werden können mit der Situation der 
Jüdinnen und Juden im NS-Staat, die zuerst 
ReichsbürgerInnen zweiter Klasse, und dann -vor 
Ihrer Vernichtung- gänzlich ihrer Bürgerschaft 
und ihres Eigentums beraubt wurden.
Sich in dieser Gleichsetzung auf Agamben zu 
berufen, grenzt schon ans Zynische, stellt doch 
gerade Agamben nicht nur die Einmaligkeit der 
Judenvernichtung, sondern was deren Schrecken 
betrifft -in der Tradition von Primo Levi- deren 
Unbezeugbarkeit heraus. Das, was in Auschwitz 
geschehen ist, kann nicht einmal bezeugt werden, 
weil diejenigen , die es bezeugen könnten, 
vergast wurden. Diejenigen aber, die bezeugen, 
haben überlebt und erweisen sich dadurch schon 
als Privilegierte.

Das heisse aber nicht, dass das Vernichtungslager 
der Vergangenheit angehört; nein - es kehrt 
wieder - aber anders! - und - das ist die 
wichtigste These Agambens: Das Lager ist in der 
bürgerlichen Gesellschaft immer schon da! Und 
zwar “[Š] als verborgene Matrix, als nómos des 
politischen Raums, in dem wir auch heute noch 
leben." (S.175)

Nach meiner Kenntnis hat Agamben an keiner Stelle 
die Erwerbslosen als die neuen 'homines sacri' 
bezeichnet - zumal das Thema der 'Heiligen 
Menschen' im Zusammenhang mit der Frage 
abgehandelt wird,  was Souveränität ist. (Anm.: 
Ein homo sacer ist ein Ausgestossener und 
Friedloser, ein Vogelfreier - ein Mensch, den man 
töten kann ohne bestraft zu werden).
Gleichwohl schreibt Agamben: “[Š] jede 
Gesellschaft - auch die modernste- entscheidet 
darüber, welche ihre homines sacri (uomini sacri) 
sind." (S.148)
Von daher ist es richtig zu fragen, wer diese 
postmodernen homines sacri sind (in Agambens 
Perspektive eher noch die heimatlosen und 
herumirrenden Flüchtlinge und MigrantInnen).

Die Beantwortung dieser Frage durch den AK ELViS 
stellt jedoch nicht nur eine aufs Schärfste zu 
verurteilende Verharmlosung der Shoa dar, sondern 
auch eine Verharmlosung dessen, was die 
grundgesicherten deutschen (und andere nicht 
grundgesicherten) Erwerbslose hierzulande und 
weltweit noch erwarten könnte.
Und - drittens - zeigt sich eine völlige 
Fehleinschätzung der Motive der heutigen 
MachthaberInnen. Die derzeitige Diskussion über 
das SGBII-Fortentwicklungsgesetz steht 
schließlich immer noch im Rahmen der 
Sozialstaats-Debatte, zu der immer schon die 
Forderung nach Arbeitspflicht im Gegenzug zu der 
erhaltenen Grundsicherung gehörte. Die 
Herrschenden wollen uns derzeit eben nicht 
“abschießen" und können uns schon gar nicht 
unbestraft töten, sondern wollen uns immer noch 
-wenn auch zunehmend mit Zwang- irgendwie in den 
gesellschaftlichen Arbeitsprozess integrieren. 
Das kann sich ändern, aber nicht unter dem 
Personal, das heute herrscht.

Zusammenfassend fordere ich den AK ElViS auf, 
seine Gleichsetzung “Juden unter dem 
Nationalsozialismus = Arbeitslose im 21. 
Jahrhundert" zu begründen, und zwar so, dass 
benannt wird, unter welchem Gesichtspunkt beide 
Bevölkerungen verglichen werden.

Zweitens muss ELViS nachweisen, wo Giorgio 
Agamben die Erwerbslosen als 'Homines Sacri' der 
Moderne bezeichnet (die man töten kann ohne 
bestraft zu werden);

Drittens wäre interessant zu wissen, ob der AK 
ELViS sich als Organisation der Linkspartei.PDS 
sieht; der AK firmiert unter c/o Linkspartei.PDS 
Tempelhof-Schöneberg, Feurigstr. 68, 10827 Berlin 
und trifft sich auch dort.
Wenn ja, wäre interessant zu wissen, ob die 
Bezirksorganisation der Linkspartei.PDS den 
Inhalt der o.g. Pressemitteilung billigt.

Diese Erläuterungen müssen vom AK ELViS wiederum 
als Pressemitteilung veröffentlicht werden. Ich 
denke, dass diese 'Nacharbeit' bis zum 3. Juli 
2006 erledigt werden kann.
Geschieht das nicht, werde ich die Sache 'an die 
große Glocke hängen' - ob die dann jemand hören 
will, ist mir dann egal.

Viele Grüße
Wolfgang Ratzel

Nachrichtlich auch an: "ND" 
<redaktion at nd-online.de>, und  "Junge Welt" 
<redaktion at jungewelt.de>


Literaturangaben zu Agamben:
Giorgio Agamben: Homo Sacer - Die souveräne Macht 
und das nackte Leben. Suhrkamp (darauf beziehen 
sich meine obigen Seitenangaben)
Derselbe: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Suhrkamp
Derselbe: Ausnahmezustand. Suhrkamp
Derselbe: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. 
Verlag diaphanes. (Dieser Band ist zur Einführung 
in die Denkweise Agambens gut geeignet).
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