[SFB_disko] Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität - Donnerstagstermine

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Mit Aug 10 09:33:59 CEST 2005


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Sabine Lueken 						03.08.2005  
Zerstörte Leben in: http://www.jungewelt.de/2005/08-03/024.php
Eine Wanderausstellung zur Geschichte und Zukunft der »Euthanasie« 
  
»Holt uns hier raus, die machen uns alle tot!« riefen Kinder und Jugendliche durch die vergitterten Fenster der psychiatrischen Anstalt St. Johannes-Stift in Marsberg, als die Mutter von Paul Wulf dort ihren Sohn besuchte. Den Anstaltsleiter Dr. Kaldewey nannten die Kinder den »Menschenmetzger«. Es ging das Gerücht, er sei an gezielten Tötungen von Anstaltsinsassen beteiligt, stelle deren Hirne für Sonderforschungszwecke zur Verfügung. Pauls Mutter gelang es 1938, ihren Sohn aus der Anstalt herauszuholen. Zulassen mußte sie eine Sterilisation, die nach fünfminütiger Verhandlung des Erbgesundheitsgerichts mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn« begründet, zwangsweise angeordnet und wenig später an dem sechszehneinhalbjährigen Jungen durchgeführt wurde.


Scham und Furcht

Die Lebensgeschichte von Paul Wulf, der 1991 »mit gemischten Gefühlen« das Bundesverdienstkreuz entgegennahm, ist in »Lebensunwert – zerstörte Leben« nachzulesen. Dieser Sammelband erschien kürzlich zu einer Wanderausstellung des Bundes der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ). Wulfs Biographie ist typisch hinsichtlich mühseliger Versuche, »Wiedergutmachung« und Rehabilitation zu erlangen. Weniger typisch ist sie hinsichtlich der Vehemenz, mit der Wulf Zeit seines Lebens um Aufklärung in Sachen psychiatrischer Verfolgung bemüht war. Viele Betroffene schwiegen und schweigen aus Scham und berechtigter Furcht vor weiterer Diskriminierung. Sie gehören zu den oft so genannten »vergessenen« NS-Opfern. 

Auf der Grundlage des ersten faschistischen Rassegesetzes, des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933, wurden insgesamt etwa 650000 Menschen zwangssterilisiert oder ermordet. Die Ausstellung des BEZ vermittelt sachliche Informationen und fördert das Verständnis mit individuellen Geschichten hinter den anonymen Zahlen. Die Opfer wurden nicht schlechthin »vergessen«, sondern in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit bewußt ausgegrenzt. Sie galten nicht als »echte Verfolgte«, bekamen keine Entschädigung. Das Erbgesundheitsgesetz von 1933 stand nicht im Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen der 50er und 60er. Bis heute ist es nicht abgeschafft, nur außer Kraft gesetzt. Der BEZ setzt sich für seine Aufhebung und Nichtigerklärung ein, weil erst das Rehabilitation für die Betroffenen und ihre Familien bedeute.

Wenn die sozial Ausgegrenzten nach 1945 um die Anerkennung als Opfer des Naziregimes kämpften, mußten sie lange damit rechnen, daß dieselben Naziärzte wie vorher die Gutachten schrieben. Paul Wulf wurde als Hilfsgärtner in den Universitätskliniken Münster unmittelbar mit Otmar von Verschuer konfrontiert, einem Todfeind sozusagen, bedeutendster Vertreter der Erbgesundheitslehre und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Während Wulf mühsam um seine Rehabilitierung rang, kam Verschuer unbehelligt von seiner faschistischen Vergangenheit wieder zu höchsten Würden.


Nachher wie vorher

Die Opfer der psychiatrischen Verfolgung wurden also nach 1945 weiterhin mißachtet und gedemütigt: Ihre vormaligen Diagnosen galten vielfach als berechtigt, Beeinträchtigungen, die sie als Folgen der Zwangssterilisierungen vorbrachten, als simuliert. Ihre Erinnerungen waren und sind nicht gesellschaftsfähig, obwohl inzwischen ja fast alle Deutschen selbsternannte Opfer des Faschismus sind (sei es als Vertriebene, als Brand- und Luftschutzopfer) – diese Menschen bleiben stigmatisiert.


Sterben heute

Verstärkt wird heute wieder zwischen Tüchtigen und Untüchtigen unterschieden, schreibt C. Dorothee Roer in ihrem Beitrag zum Ausstellungsband, der Bezüge zu aktuellen Debatten enthält, etwa über die genetische »Verbesserung« des Menschen und die Sterbehilfe. Indem man mit dem (Patienten-)Verfügungswesen ganz auf private Lösungen setzt, wird der Tod zur persönlichen »Chance« stilisiert, »entpolitisiert«, aus seinen sozialen Bezügen herausgenommen, schreibt Erika Feyerabend zum Thema »Sterben heute«. Personalmangel in Krankenhäusern und Pflegeheimen, selektive Verteilung medizinischer Angebote, soziale Bedingungen der Betroffenen – über diese Aspekte braucht dann nicht mehr geredet zu werden. »So unspektakulär wird das ärztliche Tötungsrecht wieder Bestandteil des deutschen Rechtslebens«, konstatiert die Autorin.

Buch und Ausstellung enthalten darüberhinaus gut belegte, mit vielen Literaturhinweisen versehene Beiträge zur historischen Rolle diverser Institutionen bei der Durchführung von Zwangssterilisierungen und Morden in der Psychiatrie. Gesundheitsämter und Amtsärzte haben ihren Teil beigetragen, Fürsorge, Sonderpädagogik und Kirchen. 

Daß die Ausstellung jetzt in Oldenburg zu sehen ist, hat mit den Aktivitäten des »Gedenkkreises Wehnen e.V.« zu tun. Wehnen ist ein Ortsteil von Oldenburg. Vor etwa einem Jahr eröffnete hier die einzige Gedenkstätte, deren Einrichtung Angehörige der Opfer von NS-»Euthanasie« anregten: die »Alte Pathologie« in der früheren Heil- und Pflegeanstalt Wehnen auf dem Gelände des heutigen Niedersächsischen Landeskrankenhauses. An der Universität der Stadt wird die NS-Gesundheits- und Sozialpolitik im Oldenburger Land nun in einem interdisziplinären Forschungsprojekt genauer untersucht. Die Arbeit mit Zeitzeugen und deren Angehörigen spielt dabei eine zentrale Rolle.

Paul Wulf ist 1999 gestorben. Auf seinem Grab steht ein Gedicht von Erich Mühsam. Das endet mit den Zeilen: »Vergeßt eure Not, eure Leiden nicht! Ich lehre euch: Gedächtnis!« Bleibt zu hoffen, daß dies verstanden wird. Die Ausstellung ist noch bis 11. August im Bibliothekssaal der Universität Oldenburg zu sehen.

* Margret Hamm (Hg.): Lebensun-wert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«. VAS – Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt/M. 2005. 254 S., 19,80 Euro