[imc-presse] Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik aufgrund der akuten Situation in Kobanê/Ain al-Arab Rojava/Nordsyrien)

Civaka Azad e.V. info at civaka-azad.org
Tue Sep 23 12:07:23 CEST 2014


Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik aufgrund der akuten Situation
in Kobanê/Ain al-Arab Rojava/Nordsyrien)

 

von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.,
22.09.2014

 

Seit mittlerweile einer Woche greift die dschihadistische Organisation
"Islamischer Staat" (IS, auch als ISIS bekannt) erneut die Stadt Kobanê (Ain
al-Arab) in Rojava (Nordsyrien) an. Die Gruppierung spricht von einem
finalen Kampf auf das selbstverwaltete Gebiet in Kobanê und hat
dementsprechend große Teile ihrer Kampfverbände und ihres militärischen
Geräts in die Region mobilisiert. Mit schweren Waffen und Panzern hat sie
die Stadt von drei Seiten umstellt und versucht in Richtung Stadtzentrum
vorzudringen. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und
Frauenverteidigungseinheiten YPJ haben als Vorsichtsmaßnahme dutzende Dörfer
um Kobanê geräumt und die Zivilbevölkerung in Sicherheit gebracht. Mit ihren
vergleichsweise schwachen militärischen Mitteln versuchen die Kräfte derzeit
die Einheiten des IS aufzuhalten und zurückzudrängen. #

 

Kobanê - der Ort, an dem die Revolution von Rojava ihren Anfang nahm 

 

Kobanê ist für die Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden in Syrien von
besonderer Bedeutung. Denn dort nahm die Revolution von Rojava ihren Anlauf.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 nahmen die Kräfte der YPG
gemeinsam mit den Einwohnern der Stadt die staatlichen Einrichtungen ein und
verdrängten die Kräfte des Assad-Regimes in einem unblutigen Akt aus der
Stadt. Angespornt von der Befreiung Kobanês kam es in den Folgetagen zu
ähnlichen Befreiungsaktionen in weiteren Regionen Rojavas, sodass binnen
kurzer Zeit große Teile der kurdisch besiedelten Gebiete Syriens vom
Baath-Regime befreit waren. In der Folgezeit baute die Bevölkerung in der
Region ihre eigenen Selbstverwaltungsstrukturen auf und begann das
öffentliche Leben auf demokratisch Weise selbst zu regeln. Obwohl sowohl
Kräfte des Regimes, aber immer wieder auch Einheiten der Freien Syrischen
Armee (FSA) und der Al-Nusra-Front, Angriffe auf Rojava unternahmen, blieb
die Region im Vergleich zum übrigen Syrien, das im Bürgerkrieg versank,
relativ stabil. Aus diesem Grund suchten auch viele Menschen aus den übrigen
Teilen des Landes, die aufgrund des anhaltenden Krieges ihre Heimat
verlassen mussten, Zuflucht in Rojava. Allein in Kobanê wuchs dadurch die
Einwohnerzahl binnen kurzer Zeit von etwa 300.000 auf rund 500.000. Trotz
eines anhaltenden wirtschaftlichen Embargos gegen die Region - so hielt
beispielsweise die Türkei seit Beginn der Revolution praktisch durchgehend
ihre Grenzen selbst für humanitäre Unterstützung verschlossen - versuchten
die Einwohner mit ihren begrenzten Möglichkeiten ihr Überleben zu sichern.

 

Heute ist Kobanê einer der drei Kantone in Rojava, in denen im November 2013
die Autonomie mit einer demokratischen Verfassung unter Beteiligung aller
religiösen und ethnischen Gruppen ausgerufen wurde. Mit dem Erstarken des
sogenannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak entwickelte sich
allerdings eine neue Gefahr für die gesamte Region. Rojava ist seither
Zielscheibe dieser Organisation. Der aktuelle Vorstoß des IS in Richtung
Kobanê ist bereits die dritte große Angriffswelle der Islamisten auf die
Stadt in den letzten Monaten. 

 

Warum ist Kobanê Ziel der Angriffe?

 

Kobanê liegt geographisch betrachtet in der Mitte der drei Kantone, die
gemeinsam das Gebiet Rojava ausmachen. Im Westen liegt der Kanton Afrin und
im Osten der flächenmäßig größte Kanton Cizîrê. Der Norden von Kobanê ist
türkisches Grenzgebiet. Mit der Stadt Pîrsûs (trk. Suruç) ist der nördliche
Nachbarort Kobanês durch den Grenzübergang Mürşitpınar verbunden. Gelingt es
dem IS die Stadt einzunehmen, würde sie somit einen weiteren Grenzübergang
zur Türkei kontrollieren. Bereits jetzt sind drei Grenzübergänge zwischen
Syrien und der Türkei unter der Kontrolle der Islamisten.

Doch Kobanê könnte lediglich als Türöffner für das nächste Ziel des IS
dienen. Kurdische Verantwortliche aus der Region gehen nämlich davon aus,
dass die Gefolgsleute von al-Baghdadi es eigentlich auf den Kanton Cizîrê
abgesehen haben. Cizîrê ist nämlich nicht nur, wie oben genannt, der größte
der drei Kantone Rojavas, er ist auch wirtschaftlich betrachtet und, durch
seine Grenzen zu Südkurdistan/Nordirak und zur Türkei, geostrategisch der
lukrativste Kanton für den IS. Bereits beim Vormarsch des IS auf Şengal
(Sindschar) versuchten die Islamisten deshalb auch gleich in Richtung des
Grenzübergang Rabia zu Rojava/Nordsyrien vorzustoßen. Gleich dahinter liegt
Til Koçer (al-Yarubiyah) und somit der Kanton Cizîrê. Die Einnahme des
Grenzübergangs durch den IS konnte nur durch einen Vorstoß der YPG
unterbunden werden. Andernfalls hätte der Islamische Staat den Kanton vom
Osten her abschotten und von dort aus einen großangelegten Angriff
vorbereiten können. Was dem IS vom Osten her nicht geglückt ist, soll nun
durch eine Einnahme Kobanês vom Westen her vollzogen werden. Fällt Kobanê in
die Hand der Islamisten, wäre Cizîrê im Westen komplett von dem IS
abgeschottet. Zudem wäre auch der westlichste Kanton Afrin komplett
isoliert. 

 

Welche Rolle spielt die Türkei?

 

Während südlich der Staatsgrenze Türkei/Syrien derzeit wohl die bis dato
heftigsten Gefechte zwischen der YPG und dem IS anhalten, greift die
türkische Armee nördlich der Grenze mit äußerster Brutalität tausende
Menschen an, die sich aus Solidarität mit dem Widerstand von Kobanê nach
Pîrsûs begeben haben. Die Türkei spielt derzeit ein widersprüchliches Spiel.
Sie gibt den westlichen Staaten einerseits zögerliche Signale, dass sie
bereit sei, an einer Anti-IS-Koalition teilzunehmen, auch wenn sie sich
bislang mit Verweis auf ihre mittlerweile freigelassenen 49
Konsulatsmitarbeiter äußerst zurückhaltend verhielt. Andererseits
unterstützt sie allerdings weiterhin unter verdeckter Hand den IS in ihrem
Kampf gegen Rojava. Die Meldungen von logistischer Unterstützung bis hin zu
Waffenlieferungen, offenen türkischen Grenzen für Islamisten, die sich dem
IS anschließen wollen, medizinischer Versorgung für verletzte IS-Mitglieder
bis hin zu vermeintlichen Ausbildungslagern des IS in der Türkei, sind zwar
nicht neu, aber leider auch nicht Teil der Vergangenheit. Allein in den
letzten Tagen gelangten mehrfach nachweisliche Meldungen an die
Öffentlichkeit, die von Waffennachschub aus der Türkei für die Offensive des
IS auf Kobanê berichteten. 

 

Für Vertreter der kurdischen Bewegung ist die Sache eindeutig: Die Türkei
führt über den IS einen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden in Rojava. Von
Anfang an hat die türkische Politik einen feindlichen Kurs gegen die
Revolution in Rojava gefahren. Hat die AKP-Regierung zu Beginn sich
erfolgreich dafür eingesetzt, dass der damalige Syrische Nationalrat im
Falle einer Machtübernahme die Verleugnungspolitik Assads gegen die Kurden
in Syrien fortsetzt, und damit einen nicht unmaßgeblichen Anteil an der
Spaltung der syrischen Opposition gehabt, so befeuerten die Herrschaften in
Ankara zugleich auch stets bewaffnete Angriffsversuche auf Rojava seitens
syrischen Oppositionellen, egal ob es sich dabei um die FSA oder die
Al-Nusra-Front handelte. Dieser Politik ist die AKP auch im Falle des IS
treu geblieben. Zuletzt sprachen türkische Regierungsmitglieder nach der
Freilassung ihrer Konsulatsmitarbeiter ganz offen und unverfroren davon,
dass man selbstverständlich mit dem IS politische Verhandlungen geführt
habe. Anhänger des IS rühmen sich bereits damit, dass diese Haltung der
AKP-Regierung einer Anerkennung des "Kalifats" durch die Türkei gleichkomme.
Welches Gewicht die Unterstützung der Türkei für den aktuellen IS-Vormarsch
auf Kobanê bei den Verhandlungen zwischen beiden Parteien zukam, bleibt
offen.    

 

Mögliche Handlungsempfehlungen vor diesem Hintergrund

 

Im Interview mit der FAZ vom 21.09. warnt Salih Muslim, Kovorsitzender der
Partei der Demokratischen Einheit (PYD), mit deutlichen Worten vor der
Gefahr eines Massakers, wie Anfang August in Şengal, jetzt in Kobanê, wenn
nicht sofort gehandelt wird. Er erklärt auch, dass dringend schwere Waffen
benötigt werden, um die amerikanischen Panzer, die der IS aus den Händen der
irakischen Armee erbeutet hatte und die sie jetzt bei ihrem Angriff auf
Kobanê einsetzen, zu stoppen. "Und darüber hinaus brauchen wir natürlich
auch humanitäre Hilfe", macht Muslim deutlich. 

 

Neben den Forderungen des PYD-Kovorsitzenden möchten wir Ihnen die folgenden
Handlungsempfehlungen nahelegen, um einen Beitrag für die Lösung der
derzeitigen Krisensituation in Kobanê zu leisten:

 

1.       Vollständige Öffnung des Grenzübergangs Mürşitpınar für
grenzüberschreitende Nothilfe

Dieser Schritt ist dringend notwendig, denn ansonsten wird die Belagerung
Kobanês unweigerlich mit einer humanitären Katastrophe für die
Zivilbevölkerung einhergehen. Dieselbe Forderung stellt vor dem Hintergrund
der gegenwärtigen Situation in der Region auch die Hilfsorganisation medico
international. In ihrer Erklärung heißt es unter anderem: "Die Grenzregion
um Kobanê, auf türkisch-kurdischer Seite in Suruç wie auch im belagerten
Kobanê braucht jetzt wirklich alles: Medikamente, aber auch Lebensmittel.
[.]Die Türkei muss ihre Grenze für die humanitäre Hilfe endlich öffnen. Sie
muss es ermöglichen, dass die bedrängte kurdische Bevölkerung nicht nur
fliehen kann, sondern dass sie auch die Möglichkeiten hat, ihre eigene Stadt
in Syrien zu schützen." Wir teilen die hier geäußerte Ansicht von medico
international und bitten die Bundesregierung, für die Umsetzung dieser
Forderung dringend Druck auf die türkische Regierung aufzubauen.

 

2.       Unterbindung der Grenzübertritte für IS-Mitglieder und
Dschihadisten, die sich dem IS anschließen wollen

Erst kürzlich konnten Mitglieder der YPG drei aus Europa stammenden
Dschihadisten fassen, die sich dem IS über die Türkei anschließen wollten.
Zwei von ihnen verfügten über die belgische und einer über die französische
Staatsangehörigkeit. Die Türkei ist eines der wichtigsten Transitländer für
neuankommende Mitglieder des IS. Und Bilder, die in den vergangenen Tagen
über die sozialen Medien gingen, verdeutlichen, dass sich IS-Mitglieder
offen in den Metropolen der Türkei bewegen können. Auch an dieser Stelle
sollte die Bundesregierung die Türkei stärker dazu mahnen, Dschihadisten,
die sich aus Europa in Richtung Syrien oder Irak auf den Weg machen, um sich
dem IS anzuschließen, zu stoppen.

 

3.       Unterstützung aller kurdischen Gruppen, die sich im Kampf mit dem
IS befinden

Bislang macht die Bundesregierung eine scharfe Trennung bei ihrer
Unterstützung von kurdischen Kräften, die sich im Kampf gegen den IS
befinden. Einziger "unterstützungswerter" Partner der Bundesregierung
scheinen in dieser Hinsicht die Peshmergekräfte in der Autonomen Region
Kurdistan zu sein. Tatsache ist allerdings, dass in Rojava, aber auch in
Südkurdistan, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) bislang den effektivsten
Widerstand gegen den IS geleistet haben. Wir denken deshalb, dass diese
Trennung, welche die Bundesregierung an dieser Stelle vornimmt, nicht
zielführend im Kampf gegen den IS ist und deshalb hier umgedacht werden
muss. Dieser Punkt betrifft nicht allein die Frage der Waffenunterstützung,
denn auch die humanitäre Hilfe kommt in Rojava nur in einem
unverhältnismäßig geringen Maße an. 

 

4.       Anerkennung der Demokratisch-Autonomen Verwaltungen von Rojava

Der aktuelle Kampf zwischen dem IS und der YPG ist nicht allein ein
bewaffneter Kampf. Hier prallen nämlich auch gänzlich entgegengesetzte
Weltbilder und Vorstellungen eines Nahen und Mittleren Ostens aufeinander.
Entgegen einer faschistoiden, menschenverachtenden und frauenfeindlichen
Ideologie des sogenannten Islamischen Staates steht die, durch die
Revolution von Rojava repräsentierte, Perspektive einer demokratischen,
pluralistischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft. Eine internationale
Anerkennung der Demokratisch-Autonomen-Verwaltungen von Rojava würde den
Völkern der Region neue Kraft im Kampf gegen den IS geben.

Wir möchten deshalb der bundesdeutschen Politik die Empfehlung nahelegen,
sich auf direktem Wege mit der Verwaltung von Kobanê, aber auch mit den
Verwaltungen von Cizîrê und Afrin, in Verbindung zu einem Dialog zu setzen
und diese anzuerkennen. 

Vor dem Hintergrund, dass allerdings derzeit auch eine grenzübergreifende
humanitäre Katastrophe droht, die sich bis in die kurdischen
Siedlungsgebiete in der Türkei ausdehnen könnte, sollte auch der Dialog zu
kurdischen Akteuren in der Türkei wie bspw. dem Demokratischen
Gesellschaftskongress (DTK) oder der Demokratischen Partei der Regionen
(DBP) gesucht werden.

 

5.       Ausweitung der humanitären Hilfe

Wir bitten die Bundesregierung nachdrücklich, die Kanäle der humanitären
Hilfe für Rojava auszuweiten. Hierzu sollte sowohl der Weg über die Gremien
der Vereinten Nationen als auch über die Unterstützung
zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen, die sich in der Region
engagieren möchten, gegangen werden. 

 

6.       Entsendung einer überparteilichen Parlamentarierdelegation 

Zuletzt möchten wir Ihnen die Entsendung einer überparteilichen
Parlamentarierdelegation, die sich vor Ort über die Situation und die
Bedürfnisse der notleidenden Menschen in der Region ein Bild machen könnte,
nahelegen. Sollte die Umsetzung dieser Empfehlung in Betracht gezogen
werden, stehen wir Ihnen für die Beantwortung aller Fragen zur Umsetzung
dessen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. 

 

 

Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. 
www.civaka-azad.org <http://www.civaka-azad.org/>  // info at civaka-azad.org 
Bornheimer Landstraße 48, 60316 Frankfurt 
Tel.: 069/84772084, Mobil: 01573/8485818

 



---
Diese E-Mail ist frei von Viren und Malware, denn der avast! Antivirus Schutz ist aktiv.
http://www.avast.com
-------------- next part --------------
An HTML attachment was scrubbed...
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20140923/6f577971/attachment-0001.html>
-------------- next part --------------
A non-text attachment was scrubbed...
Name: Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik - 23.09.2014.pdf
Type: application/pdf
Size: 245538 bytes
Desc: not available
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20140923/6f577971/attachment-0001.pdf>
-------------- next part --------------
A non-text attachment was scrubbed...
Name: Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik - 23.09.2014.doc
Type: application/msword
Size: 107008 bytes
Desc: not available
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20140923/6f577971/attachment-0001.doc>


More information about the imc-presse mailing list