[imc-presse] [attac-d-presse] Wirtschaftsnobelpreisträger lösen nicht drängende gesellschaftliche Fragen

Attac-Pressestelle presse at attac.de
Thu Aug 21 12:13:20 CEST 2014


Pressemitteilung
Wissenschaftlicher Beirat von Attac
Lindau, 21. August 2014



* Wirtschaftsnobelpreisträger lösen nicht drängende gesellschaftliche Fragen

* Wissenschaftlicher Beirat von Attac lädt zu interdisziplinärem Denken
einer alternativen Ökonomie ein

Anlässlich des Treffens der Wirtschaftsnobelpreisträger in Lindau hat
der Wissenschaftliche Beirat des globalisierungskritischen Netzwerks
Attac der vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftswissenschaft
nachdrücklich widersprochen und Anhaltspunkte für eine alternative
Ökonomie aufgezeigt. Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag in Lindau
forderten Vertreter des Beirats die wirtschaftswissenschaftliche Elite
auf, zu einer produktiven, dem Gegenstand entsprechenden
Interdisziplinarität zurückfinden und den dominierenden
Marktfundamentalismus in Frage stellen. Nur so ließen sich drängende
Probleme wie Handelsungleichgewichte, soziale Ungerechtigkeit,
Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldungen oder ökologische Krisen lösen.

"Die beherrschende Wirtschaftswissenschaft hat nicht erst in der
Finanzmarktkrise versagt. Der Grundirrtum ist die Annahme, sich selbst
überlassene Marktsysteme würden Wohlstand erzeugen. Das Gegenteil ist
der Fall. Das blindwütige Profitsystem schafft immer wieder Krisen,
vertieft soziale Ungerechtigkeit und zerstört die Umwelt. Die große
Mehrheit der Nobelpreisträger trägt für diesen zerstörerischen
Irrglauben die Verantwortung", sagte Professor Dr. Rudolf Hickel vom
Bremer Institut Arbeit und Wirtschaft. Notwendig sei eine alternative
Ökonomie, die die dienende Rolle der Wirtschaft für Arbeit,
Gerechtigkeit und Umwelt sicherstellt.

Auch PD Dr. Ralf Ptak vom Forschungsbereich Wirtschaftswissenschaft und
Ökonomische Bildung der Universität Köln hielt der Ökonomen-Elite den
Spiegel vor: "Die orthodoxe Wirtschaftswissenschaft hat sich zu einer
monistischen Disziplin ohne sozialwissenschaftliche Bezüge entwickelt.
Sie ist zu einem realitätsfernen Problemverstärker statt zu einem
Problemlöser geworden. Wir brauchen mehr Pluralität in den theoretischen
und methodischen Ansätzen der Wirtschaftswissenschaft."

Dr. Silke Ötsch von der Universität Innsbruck forderte die
Wirtschaftswissenschaften auf, sich ernsthaft mit dem Problem des
Wirtschaftswachstums zu befassen. "Fast jedem Laien leuchtet ein, dass
eine Wirtschaft in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann und
dass Beteuerungen, es handele sich um qualitatives Wachstum bei
zunehmendem Umweltverbrauch wenig plausibel sind. Mit
Postwachstumsökonomie beschäftigen sich dennoch hauptsächlich
Außenseiter. Wir brauchen dringend eine interdisziplinäre
Transformationsforschung."

Bei der Pressekonferenz stellte der Attac-Beirat sein "Manifest von
Lindau" (Kurzfassung: siehe unten; Langfassung:
http://kurzlink.de/Lindauer_Manifest) vor, mit dem er den wenigen
Nobelpreisträgern zur Seite stehen will, die den entfesselten
Kapitalismus kritisch analysieren. Zudem kritisierte das Gremium die
seit Jahrzehnten andauernde Diskriminierung von Frauen im
"Nobelpreis-Männerzirkus".

Gemeinsam mit Attac Bodensee begleitet der Attac-Beirat das
Nobelpreisträgertreffen kritisch mit öffentlichen Aktivitäten. Geplant
sind unter anderem heute eine Demonstration in Lindau sowie eine
abendliche Podiumsdiskussion mit Rudolf Hickel, Silke Ötsch und Stephan
Schulmeister vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung
sowie Professor Martin Hellwig vom Max Planck Institute for Research on
Collective Goods und einem der wissenschaftlichen Leiter der
Laureatentagung.

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Der Wissenschaftliche Beirat von Attac ist ein unabhängiges,
interdisziplinäres Beratungs- und Forschungsgremium, das seine Expertise
in den Dienst des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Deutschland
stellt. Weit über 100 ProfessorInnen, WissenschaftlerInnen und
ExpertInnen aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Fachrichtungen
sind sich grundsätzlich in ihrer kritischen Haltung zur gegenwärtigen
Richtung der Globalisierung einig. Dies schließt Pluralismus in
Methoden, Zielen und Ergebnissen sowie differierende Positionen nicht aus.

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Für Rückfragen und Interviews:

* Prof. Dr. Rudolf Hickel, Wissenschaftlicher Beirat von Attac,
Tel. 0171 5301125

* Dr. Ralf Ptak, Wissenschaftlicher Beirat von Attac,
Tel. 0177 239 76 66

* Dr. Silke Ötsch, Wissenschaftlicher Beirat von Attac,
Tel. 0043 (0)699 1810 2148


Manifest von Lindau:

* Langfassung: http://kurzlink.de/Lindauer_Manifest
(http://www.attac-netzwerk.de/fileadmin/user_upload/Gremien/Wissenschaftlicher_Beirat/WB_Attac__Lindauer_Manifest_2014.pdf)

* Kurzfassung: siehe unten


Weitere Informationen:

* Wissenschaftlicher Beirat von Attac:
www.attac-netzwerk.de/das-netzwerk/wissenschaftlicher-beirat

* Aktionstag:
www.attac.de/aktionstag-lindau


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MANIFEST VON LINDAU

Kurzfassung der Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac
Deutschland anlässlich der 5. Lindauer Tagung der
Wirtschaftswissenschaften mit 19 Nobel-Preisträgern vom 19. bis 23.
August 2014

Der Wissenschaftliche Beirat von Attac Deutschland nimmt die Lindauer
"Tagung der Wirtschaftswissenschaften" zum Anlass, sich mit einem
Manifest zum Zustand und den Perspektiven der Wirtschaftswissenschaft zu
äußern.

Seit den 1970er Jahren haben sich die Wirtschaftswissenschaften in ihrer
bestimmenden Ausrichtung nicht nur von einem bis dahin u.a.
keynesianisch inspirierten aktiven wirtschaftspolitischen Handeln
verabschiedet und dem neoliberalen Marktdogma geöffnet. Sie haben auch
ihre sozialwissenschaftlichen Wurzeln gekappt und versuchen sich seither
als Leitwissenschaft zu etablieren. Das selbst von zahlreichen
Vertreterinnen und Vertretern der bestimmenden Lehrmeinungen kritisch
beobachtete Paradoxon liegt nun darin, dass mit der kontinuierlichen
Aufwertung und Dominanz der Wirtschaftswissenschaften in der
Gesellschaft deren Problemlösungskompetenzen und -fähigkeit umgekehrt
proportional zu sinken scheint.

Die Disziplin tendiert in ihrer tonangebenden Ausrichtung in
Wissenschaft und Politikberatung seit Jahren zu einem methodischem und
theoretischen Dogmatismus, der weder grundlegende Auseinandersetzungen
über die Annahmen der Ökonomik noch echte Pluralität und Vielfalt in den
Ansätzen zulässt. Vor diesem Hintergrund sind die etablierten
Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage, eine Debatte über die
notwendigen Veränderungen der Wirtschafts- und Lebensweise anzustoßen,
um der sozial und ökologisch zerstörerischen Produktions- und
Lebensweise entgegenzusteuern. Dabei ist der seit Jahrzehnten
diskutierte fehlende Realitätsbezug ein zentrales Problem. In Folge
dessen verschwindet immer mehr die Grenze zwischen den weiterhin
fiktionalen bzw. stets sehr modellspezifisch gültigen Ergebnissen der
überaus komplexen, wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und der
Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf das reale Leben sowie deren
Relevanz für die praktischen Entwicklungen und Bedingungen
wirtschaftlichen Handelns auf der Welt.

Ausgestattet mit diesem Rüstzeug wird ein Klima der Unantastbarkeit
geschaffen, das mit einer klaren Botschaft verknüpft ist: Wer nicht dem
methodologischen Ansatz orthodoxer Ökonomik folgen kann oder will, ist
weder zur Kritik berechtigt noch überhaupt in der Lage, qualifizierte
Aussagen über wirtschaftliche Phänomene und Prozesse zu treffen und
sollte sich deshalb tunlichst aus den ökonomischen Debatten
heraushalten. Um die moderne Ökonomik zukunftsfähig werden zu lassen,
bedarf es einer bewussten und grundsätzlichen Abkehr vom engstirnigen
marktwirtschaftlichen Dogmatismus neoliberaler Provenienz. Das ist
schwerer als es scheint, denn trotz der großen Krise hat das neoliberale
Denken in Theorie und Praxis nicht nur in seinen verschiedenen Facetten
von opportunistisch-dumm über dreist-unverfroren bis zu
radikal-gleichgültig überlebt. Es nimmt sogar einen neuen Anlauf, um das
Rad marktradikaler "Reformen" weiter und noch schneller zu drehen, wie
wir etwa in der europäischen Krisenpolitik unter deutscher Führung sehen.

Stattdessen bedarf es echter Alternativen. Wir brauchen eine kritische
politische Ökonomik des guten Lebens, die aus der Sackgasse neoliberaler
Politik herausführt und, um mit Karl Polanyi zu sprechen, den Boden
bereitet für eine neue "Große Transformation": ökonomisch-vielfältig,
sozial-gerecht, ökologisch-achtsam, demokratisch-partizipativ.

Langfassung: http://kurzlink.de/Lindauer_Manifest

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Frauke Distelrath
Pressesprecherin Attac Deutschland
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