[imc-presse] Stellungnahme zum Beschluss des BVerwG Leipzig

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Mon Apr 21 22:05:48 CEST 2014


Liebe Presse,

es gibt ein weiteres Urteil in dem von uns angestrengten In Camera -
Verfahren. Hier unsere Stellungnahme dazu.
Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung. Weitere
Kontaktmöglichkeiten finden sich unten.

schöne Grüße
Alex Funk für den AK Spitzelklage

Stellungnahme des Arbeitskreises Spitzelklage zum Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts Leipzig

In der seit August 2011 von sieben Kläger*innen geführten
Verwaltungsstreitsache zur Klärung des 13-monatigen Einsatzes eines
Verdeckten Ermittlers in Heidelberg hat der nun angerufene Fachsenat des
Bundesverwaltungsgerichts Leipzig Ende Februar 2014 in einem weiteren
In-camera-Verfahren einen Beschluss gefällt. Dieser erneut unter
Ausschluss der Öffentlichkeit zu Stande gekommene Beschluss ist
mittlerweile dem Anwalt der Kläger*innen zugestellt worden. Nachdem
gegen den ersten In-camera-Beschluss des in Mannheim ansässigen
Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg Beschwerde eingelegt worden
war, hatten die Leipziger Richter*innen auf nächstinstanzlicher Ebene
erneut zu prüfen, ob die ihnen komplett vorgelegten Akten zur Causa
„Simon Brenner“ vom baden-württembergischen Innenministerium rechtmäßig
gesperrt worden seien (nach § 99 Abs. 2 VwGO). Dieses nunmehr
sozialdemokratisch geführte Innenministerium war auch zu diesem zweiten
In-camera-Verfahren beigeladen worden.

Es ist zunächst festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht Leipzig
die weitergehende Beschwerde der sieben Kläger*innen abschmettert, die,
um auf zufrieden stellender Grundlage ins Hauptverfahren einsteigen zu
können, nach wie vor eine Offenlegung aller bei diesem VE-Einsatz
angelegten Akten erreichen wollen. Allerdings nimmt es am skandalösen
Beschluss des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg leichte
Veränderungen vor und bezeichnet die innenministeriale Sperrung der
Akten, bezogen auf mehr als 70 angeführte Seiten darin, als
„rechtswidrig“ (BVerwG 20 F 3.13 VGH 14 S 928/12, Seite 2). Außerdem
erweitert es deutlicher als je zuvor die Klagebefugnis auch auf die
sechs Kläger*innen, die beim Brommaschen Einsatz weder Ziel- noch
Kontaktperson waren.

Was heißt das nun im konkreten Fall?
Der Leipziger Fachsenat folgt in weiten Teilen den diesbezüglichen
Ausführungen des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg, demzufolge
eine vollständige Vorlage der Akten „Nachteile für das Wohl des Landes
durch Beeinträchtigung der Arbeit der Sicherheitsbehörden“ (ebd., Seite
3) mit sich bringen und die „wesensmäßige Geheimhaltungsbedürftigkeit
bei personenbezogenen Daten“ (ebd.) in eklatanter Weise verletzen würde.
Diese „tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verweigerungsgrundes nach
§ 99 VwGO“ (ebd.) bezögen sich aber nicht auf bestimmte, bisher
gesperrte Aktenblätter, auf denen „allgemein zugängliche Informationen
aus dem Internet beziehungsweise wohl öffentlich verteilte Flugblätter“
abgebildet seien. Hier müsse bei einer weiteren Prüfung nochmals
dargelegt werden, „warum diese Aktenbestandteile gleichwohl - etwa wegen
ihres Kontextes - geheimhaltungsbedürftig seien“ (ebd.).
Das Innenministerium in Stuttgart habe sich bei der Einstufung des
größten Teils der Akten als „geheimhaltungsbedürftig“ in einem ihm
eingeräumten Ermessensspielraum zwar „rechtsfehlerfrei“ bewegt, aber
hinsichtlich einiger weniger Punkte trotzdem „rechtsfehlerhaft“
argumentiert. Dabei geht es vor allem um die Geheimhaltung jener
Realnamen, die in der Einsatzanordnungsakte der Polizeidirektion
Heidelberg durchgängig geschwärzt wurden, um die Persönlichkeitsrechte
der Genannten zu schützen. Da aber laut BVerwG „in der gegebenen
Fallkonstellation“ (ebd., Seite 6) eine „inhaltliche und
organisatorische Verbundenheit der Personenkreise“ (ebd.) zu
konstatieren sei, müsse die „Schutzwürdigkeit der persönlichen Belange“
(ebd.) neu bewertet werden.
Das bedeutet: Das BVerwG vermutet, da es sich bei den Kläger*innen und
ihrem unmittelbaren sozialen und politischen Umfeld um Angehörige der
„sogenannten »linken Szene« in Heidelberg“ (ebd., Seite 3) handle, dass
diese Erkenntnis dazu zu führen habe, dass bei dieser „rechtlichen
Überprüfung des Einsatzes eines Verdeckten Ermittlers“ (ebd., Seite 6)
das besondere öffentliche Interesse an der Preisgabe der kontextual
sowieso erschließbaren Realnamen zu würdigen sei.
Es liegt also durchaus im Bereich des Möglichen, dass das beklagte Land
Baden-Württemberg als Antragsgegner nach § 99 VwGO auf
bundesverwaltungsgerichtliche Empfehlung hin zum zweiten Mal eine
Sperrerklärungsbegründung vorzulegen hat, die entweder
a) die ursprüngliche Version in allen Punkten bestätigt und keinerlei
„Entsperrungen“ vornimmt, also den Status quo zum Nachteil der
Kläger*innen zementiert oder
b) den Nachbesserungsvorschlägen des BVerwG zumindest teilweise folgt
und auf den von ihm im Einzelnen angeführten Aktenseiten
„Entschwärzungen“ vornimmt und diese Aktenbestandteile dann den
Kläger*innen in der graduell aufschlussreicheren Form zukommen lässt oder
c) eine komplette Aktenfreigabe präferiert, weil weder die
Geheimhaltungsbedürftigkeit noch das Primat der Persönlichkeitsrechte
weiterhin attestiert werden können.

Im Übrigen handelte ja der eingesetzte Verdeckte Ermittler grob
persönlichkeitsrechtebeschneidend, indem er ohne explizite
polizeibeamtliche Kennzeichnung als lebende versteckte Kamera und als
lebendes verstecktes Aufnahmegerät fungierte und agierte - und zwar fast
ausschließlich dort, wo weder ein physischer noch ein räumlicher noch
ein zeitlicher Zusammenhang hergestellt werden konnte zur ziel- und
kontaktpersonal eindeutig definierten Einsatzkonfiguration (Simon Bromma
war offiziell ausschließlich auf jeweils zwei Ziel- und Kontaktpersonen
aus der Antifa angesetzt worden). Nun das Ursache-Wirkung-Prinzip auf
den Kopf zu stellen und sich als justizieller Fürsprecher der
verantwortlich zeichnenden Exekutivgewaltorgane zu einem Verteidiger der
„Persönlichkeitsrechte“ der vom Einsatz Betroffenen aufzuschwingen, ist
tatsächlich absurd, folgt aber der staatlichen „Logik“, wonach nicht
diese einsatzspezifisch mit Füßen getretenen Persönlichkeitsrechte das
handlungsleitende Kriterium der Aktensperrer*innen darstellt, sondern
die mögliche Nachvollziehbarkeit (durch Dritte) ihrer offensichtlich
rechtswidrigen Repressionsmaßnahmen.
Es ist für die sieben Kläger*innen, die stellvertretend für alle vom
VE-Einsatz betroffenen Menschen den langjährigen Gang durch alle
Verwaltungsgerichtsinstanzen nehmen werden, von enormer Wichtigkeit,
welche Realnamen in welche Aktenbestandteile eingespeist wurden (und von
wem), weil vor allem diese Daten (zusammen mit den jeweiligen Zeit- und
Ortsangaben) gerichtlich verwertbaren Aufschluss darüber geben werden
können, wo sich der Polizeispitzel Bromma vollkommen rechtswidrig bewegt
hat (z. B. bei seinem auch aktenextern belegbaren „Auslandseinsatz“ auf
dem No-Border-Camp in Brüssel im Jahre 2010).
Sich jetzt beispielsweise als grüne Ministerin für Wissenschaft,
Forschung und Kunst Baden-Württemberg hinzustellen und zu behaupten,
dass „die unrechtmäßig erhobenen Daten der von der Bespitzelung
betroffenen Personen, gegen die keine Ermittlungsverfahren anhängig
waren (also fast alle), gelöscht [wurden] und so eine weitere illegale
Nutzung verhindert [worden sei]“ (Theresia Bauer am 23.02.2012 auf
abgeordnetenwatch.de/theresia_bauer-597-44454-2.html), ist entweder
bloßes Wiederkäuen der manipulierten Verlautbarungen ihres
rechtskonservativen Innenministers Reinhold Gall (SPD) oder plumpe
datenschutztechnische Absurdität. Hinsichtlich des Bemühens der sieben
Kläger*innen, lückenlose Aufklärung zu erreichen, scheint es eher
Ersteres zu sein, weil deren Auskunftsersuchen mittlerweile die Tatsache
zutage gefördert hat, dass über sie keine Daten gespeichert seien
(zumindest nicht in den Polizeidatenbanken). Wie kommen dann aber die
Bundesverwaltungsrichter*innen zu der Annahme, dass es sich bei allen
sechs Kläger*innen, die laut Einsatzanordnungsakte nicht zu den
Zielpersonen des VE-Einsatzes gezählt werden, um Angehörige der
„sogenannten »linken Szene« in Heidelberg“ handle, die inhaltlich und
organisatorisch miteinander verbundene Personenkreise bilden oder Teil
davon seien (siehe oben)? Um dies gerichtsfest konstatieren zu können,
müssen dem Leipziger Fachsenat über die Aktenbestandteile hinaus weitere
Informationen über die Kläger*innen vorgelegen haben. Aus den
VE-Einsatz-Akten allein erschließt sich diese Mutmaßung nicht zwingend
(deshalb setzt Leipzig die politische Einordnung »linke Szene« ja auch
in Anführungszeichen); da müssen oder könnten Polizeidatenbanken
angezapft worden sein. Und um dies zu klären, brauchen die Kläger*innen
und die an lückenloser Aufklärung interessierte Öffentlichkeit die
vollständige Vorlage der Akten - mit allen darin auftauchenden Realnamen.

Wir fordern also nach wie vor eine vollständige Vorlage der Akten, auch
wenn die Empfehlungen des BVerwG nicht in diese Richtung weisen; nur so
können wir eine lückenlose Aufklärung dieses proaktiv-polizeilichen
VE-Einsatzes erwirken. Um nicht in eine Sperrerklärungsendlosschleife
geraten zu müssen (und danach sieht es zurzeit aus), warten wir jetzt
nur noch die nächste „Nachbesserung“ des Innenministeriums ab; sollte
diese genauso erschütternd sein wie die Schlussfolgerungen in der ersten
Sperrerklärungsbegründung, dann stürzen wir uns auf der Basis einer
verstümmelten Aktenlage ins Hauptverfahren. Dann bleibt auch dem
ursprünglich angerufenen Verwaltungsgericht Karlsruhe nichts Anderes
übrig, als den Prozess auf dieser rudimentären Aktenlage zu führen.

Wir werden in den nächsten Tagen die Möglichkeit einer Beschwerde beim
Bundesverfassungsgericht prüfen. Dabei soll es um den § 99 VwGO gehen
(siehe oben), der sperrerklärungstechnisch den Dreh- und Angelpunkt des
Verfahrens bildet. In einem anderen Fall hat ein noch aktiver
Bundesverfassungsrichter 2006 die Meinung geäußert, dieser Paragraf sei
verfassungswidrig. Das verwundert uns nicht: Er unterminiert den
Grundsatz, dass rechtsstaatlich verankerte Polizeitätigkeit prinzipiell
offen zu sein, zumindest aber die Möglichkeit bereit zu halten habe,
dass Bürger*innen verwaltungsrechtlich dagegen vorgehen können, wenn sie
von bestimmten Maßnahmen betroffen sind (zu ihrem Nachteil). Der § 99
VwGO öffnet den staatlichen Vertuschungsmaßnahmen im Nachhinein Tür und
Tor, weil jede maßnahmenanordnende Behörde bei ihrem jeweiligen Obersten
Dienst„herrn“ eine Sperrerklärung beantragen kann, die automatisch
unterzeichnet wird und dann, je nach Hartnäckigkeit der jeweiligen
Kläger*innen, In-camera-Verfahren in Gang setzt, die es in dieser Form
erst seit 2001 gibt. Darüber hinaus verbannt er polizeiliche Maßnahmen,
die vor ihrem (zufälligen) Bekanntwerden mit geheimdienstlichen Methoden
durchgeführt wurden, auch danach in die Sphäre des
Geheimhaltungsbedürftigen, womit sie insgesamt die grundgesetzlich
vorgeschriebene Trennung zwischen Exekutivgewaltorganen und
Inlandsgeheimdienst nivellieren.

Arbeitskreis Spitzelklage Heidelberg, 21.04.2014

Bei weiteren Fragen oder Unklarheiten stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung:
Arbeitskreis Spitzelklage | ak-spitzelklage at riseup.net |
http://spitzelklage.blogsport.de
Pressekontakt: M. Dandl (0162 9154917)

Heidelberg 21.04.2014





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