[imc-presse] Türkei: AKP-"Demokratisierungspaket" : Kein Durchbruch in der kurdischen Frage / Bewertung von Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

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Tue Oct 1 09:19:48 CEST 2013


AKP-"Demokratisierungspaket" : Kein Durchbruch in der kurdischen Frage

 

Bewertung von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit
e.V., 30.09.2013

 

Seit knapp zwei Wochen wurde in den türkischen Medien über das von der
AKP-Regierung angekündigte "Demokratisierungspaket" spekuliert. Die Inhalte
des Reformpakets wurden unter strengem Verschluss gehalten. Der türkische
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan werde der Öffentlichkeit am 30.
September höchstpersönlich auf einer Pressekonferenz den Inhalt des Pakets
mitteilen, hieß es immer wieder aus Regierungskreisen. Die AKP-Regierung
ließ lediglich durchblicken, dass das Paket einen bedeutenden Beitrag für
den gegenwärtigen Lösungsprozess in der kurdischen Frage leisten und "viele
überraschen" werde. Bereits vor Bekanntmachung des Reformpakets kritisierte
die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) die Regierung für ihre
Entscheidung, ein vermeintliches Demokratisierungspaket für die kurdische
Frage zusammenzuschnüren, ohne die kurdische Seite als Verhandlungspartner
in diesem Lösungsprozess mit einzubeziehen.

 

Die Inhalte des Pakets

 

Nach Bekanntmachung des Inhalts des Demokratisierungspakets stellt sich die
Frage, welchen Beitrag es für den Lösungsprozess in der kurdischen Frage
leisten kann. Konkrete Reformen durch das Paket, die direkt die kurdische
Frage betreffen, sind die Aufhebung des Verbots für die Nutzung der
Buchstaben Q, X und W. Diese Buchstaben gibt es im kurdischen, nicht aber im
türkischen Alphabet und waren deshalb bisher verboten. Auch wurde das Recht
auf die Nutzung von Sprachen neben dem Türkischen bei
Wahlkampfveranstaltungen erlaubt. Beide Reformen stellen allerdings insofern
keinen großen Fortschritt dar, als die betreffenden Verbote von den
Kurdinnen und Kurden ohnehin ignoriert wurden. Trotz Verbots wurden sowohl
die drei verbotenen Buchstaben genutzt als auch Wahlpropaganda in kurdischer
Sprache betrieben. Die Reformen stellen insofern eine Korrektur von Gesetzen
dar, die ohnehin keine Beachtung fanden. 

 

Eine weitere Reform betrifft das Recht auf Schulunterricht in
nicht-türkischen Sprachen an Privatschulen. Diese Reform bleibt weit hinter
den Forderungen der KurdInnen zurück, die das Recht auf muttersprachlichen
Unterricht für öffentliche Schulen gefordert hatten. Auch wurde im Zuge des
Pakets der Zwang für Grundschüler, täglich den Leitsatz von Atatürk
"Glücklich ist der, der sich Türke nennen darf" aufzusagen, aufgehoben. 

 

Was das Wahlgesetz angeht, wurde die Aussicht auf eine Veränderung der
10%igen Wahlhürde von der AKP-Regierung in Aussicht gestellt. Man erwäge
drei Optionen, gab der türkische Ministerpräsident an: Die Beibehaltung der
10%-Hürde, die Herabsetzung der Hürde auf 5% im Zuge einer Verkleinerung der
Wahlbezirke, aus denen die Abgeordneten gewählt werden sollen oder eine
Abschaffung der Wahlhürde, wobei auch hier gleichzeitig die Wahlbezirke
verkleinert werden sollen. Wann allerdings eine abschließende Entscheidung
zu dieser Frage fallen soll, ließ Erdoğan offen. Sowohl dies als auch die
Aussage des Beraters des Ministerpräsidenten, Bekir Bozdag, dass dies nicht
das letzte Reformpaket sein werde, bestärken die Vermutung, dass die AKP den
gegenwärtigen Lösungsprozess in die Länge ziehen und mit dieser
Hinhaltetaktik ihre Chancen für die anstehenden Kommunalwahlen im Frühjahr
2014 verbessern möchte.

 

Eine Änderung im Wahlgesetz, von dem kleinere Parteien profitieren dürften,
betrifft den Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung. War hierfür
bisher ein Wahlergebnis von mindestens sieben Prozent Voraussetzung, wurde
diese Hürde nun auf drei Prozent herabgesetzt. Auch wurde die Möglichkeit
einer Doppelspitze in politischen Parteien durch das Reformpaket
legalisiert. Auch dies wurde in der prokurdischen BDP bereits ohne
rechtliche Erlaubnis praktiziert.

 

"Kein Demokratisierungspaket, sondern ein Wahlpaket" 

 

Die BDP-Kovorsitzende Gültan Kisanak bewertete in einer ersten Stellungnahme
ihrer Partei das "Demokratisierungspaket" der Regierung als ein Wahlpaket.
"Die Kurden fordern die Lösung der kurdischen Frage, die Aleviten fordern
das Recht auf Glaubensfreiheit, alle negierten Teile der Gesellschaft
fordern das Recht auf politische Repräsentanz. All diese Kreise leisten seit
Jahren Widerstand für ihre Forderungen. Wir möchten hier zum Ausdruck
bringen, dass das heute vorgestellte Paket auf keine dieser Forderungen eine
Antwort darstellt. Das ist kein Paket, welches eine Antwort auf das
Demokratisierungsbedürfnis der Türkei darstellt. Mit diesem Paket soll nicht
den Bedürfnissen des Volkes, sondern den Bedürfnissen der AKP gedient
werden. Dies ist kein Demokratisierungspaket, sondern ein Wahlpaket", so
Kisanak.

 

Kritik am "Demokratisierungspaket" kam auch vom Menschenrechtsverein IHD.
Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Öztürk Türkdogan fragte, was denn
aus den KCK-Gefangenen werden solle. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur
Firat (ANF) gab Türkdogan an, dass die Regierung selbst Hoffnungen geschürt
habe, das Demokratisierungspaket werde sich auch der Lage der KCK-
Gefangenen annehmen und fuhr wie folgt fort: "Doch wir haben heute erfahren,
dass sie diesbezüglich keine rechtlichen Korrekturen vorgenommen haben. Es
sitzen weiterhin tausende Menschen in den Gefängnissen, darunter
Abgeordnete, Rechtsanwälte, Journalisten, Gewerkschaftler, Schüler,
Bürgermeister und Politiker." Dass das Recht auf muttersprachlichen
Unterricht allein für Privatschulen zugelassen worden sei, kritisierte der
IHD-Vorsitzende mit folgenden Worten: "Diese Änderung wird in der Realität
keinen Widerhall finden. Woher soll die wirtschaftlich schwache kurdische
Bevölkerung das Geld nehmen, um auf eigene Kosten Schulen zu errichten und
die notwendigen Lehrer zu finanzieren?"

 

Auch der Vorsitzende des Dachverbands der Gewerkschaften des öffentlichen
Dienstes (KESK) Lami Özgen kritisierte das Demokratisierungspaket der
AKP-Regierung. Er bezeichnete das Paket als inhaltslos und beschuldigte die
Regierung, in der Bevölkerung ständig Erwartungen zu wecken, die dann
schließlich nicht erfüllt würden. "Das ist sehr gefährlich. Es gibt heute
glücklicherweise keine bewaffneten Auseinandersetzungen in der Türkei. Aber
die Regierung muss im Gegenzug hierzu auch Schritte in Richtung einer
Demokratisierung einleiten. In diesem Paket sind solche Schritte leider
nicht zu erkennen", so Özgen. 

 

Unterdessen kündigten die Mitglieder der Kommission der Weisen an, ihren
Abschlussbericht an die Regierung, in dem die Erwartungen und Forderungen
bezüglich des Lösungsprozesses formuliert sind, am Dienstag (01.10.) nun
auch der Öffentlichkeit mitteilen zu wollen. Dadurch werde nachvollziehbar,
inwieweit die Regierung mit ihrem Demokratisierungspaket den Empfehlungen
der Kommission gefolgt ist. Die Kommission der Weisen war Anfang April 2013
von der Regierung einberufen worden, um mit der Gesellschaft über den
Lösungsprozess in den Dialog zu treten und deren Erwartungen an den Prozess
für die Regierung zu dokumentieren. Die Regierung erhielt den
Abschlussbericht der Kommission bereits Ende Juni, hält ihn aber bislang
strikt unter Verschluss.

 

***

 

Mit der letzten Ausgabe der Infoblätter "Der Weg zur Lösung" von unserem
Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, hatten wir die Entwicklungen und
Hintergründe des derzeitigen Lösungsprozesses der kurdischen Frage in der
Türkei detailliert beschrieben. Hierbei findet man ausführliche
Informationen u.a. welche Schritte für eine Lösung der Frage getan werden
müssen? (Siehe:
http://civaka-azad.org/index.php/466-5-ausgabe-der-civaka-azad-infoblaetter.
html)

 

MEHR ZUM THEMA:

 
<http://civaka-azad.org/index.php/508-vorschlaege-fuer-den-weiteren-verlauf-
des-loesungsprozesses.html> VORSCHLÄGE FÜR DEN WEITEREN VERLAUF DES
LÖSUNGSPROZESSES

 
<http://civaka-azad.org/index.php/503-kck-wir-haben-den-rueckzug-gestoppt.ht
ml> KCK: WIR HABEN DEN RÜCKZUG GESTOPPT

 
<http://civaka-azad.org/index.php/analysen/nordkurdistan-und-tuerkei/480-loe
sung-bedarf-tuerkische-road-map.html> LÖSUNG BEDARF TÜRKISCHER ROAD MAP

 
<http://civaka-azad.org/index.php/hintergrundinformationen/rolle-abdullah-oe
calans/82-roadmap-fuer-die-demokratisierung-der-tuerkei-und-dieloesung-der-k
urdischen-frage.html> ROADMAP FÜR DIE DEMOKRATISIERUNG DER TÜRKEI UND
DIELÖSUNG DER KURDISCHEN FRAGE

 

 

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www.civaka-azad.org // info at civaka-azad.org 
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Tel.: 069/84772084 

 

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