[imc-presse] SYRIEN: DIE BEVÖLKERUNG VON ROJAVA SOLL ENTSCHEIDEN!

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Fri Aug 23 08:47:53 CEST 2013


DIE BEVÖLKERUNG VON ROJAVA SOLL ENTSCHEIDEN!

 

„Demokratische Autonomie“: Das Gesellschaftsmodell für eine friedliches
Miteinander der Völker der Region

 

Devris Çimen, Journalist und Mitarbeiter im Kurdischen Zentrum für
Öffentlichkeitsarbeit e.V., 23.01.2013

 

„Wir müssen unseren Widerstand auf eine solche Art und Weise führen, dass,
nachdem das Assad-Regime abgelöst sein wird, sich die Völker weiterhin in
die Augen schauen können.“

Salih Muslim, Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD)

 

Der syrische Nationalstaat versinkt im Chaos und ein Ende des Bürgerkriegs
ist nicht abzusehen. Das Baath-Regime hält sich länger als zu Beginn des
Krieges prognostiziert an der Macht. Derzeit erobert das Regime gar im Süden
des Landes an die Opposition verlorene Gebiete wieder zurück. Der Widerstand
gegen Assad hingegen, zu Anfang noch ein demokratisches Aufbegehren gegen
ein antidemokratisches und autoritäres Regime, ist von seinem anfänglich
fortschrittlichen Charakter weit abgekommen. Der Bürgerkrieg ist zu einem
Machtkampf verkommen, bei dem das Regime auf der einen Seite steht und die
Freie Syrische Armee (FSA) und die islamistischen Kräfte auf der anderen
Seite. Der Krieg in Syrien ist auch ein Stellvertreterkrieg. Russland und
die vom Iran angeführte schiitische Achse stehen hinter dem Regime. Der
Westen, die Türkei und die sunnitisch-arabische Welt unterstützen
demgegenüber tatkräftig die FSA. Dann gibt es noch die Islamisten, die zum
Heiligen Krieg in Syrien aufgerufen haben und aus der ganzen Welt
radikalislamistische Kämpfer in das Land locken. Diese Gruppen werden
ebenfalls von der arabischen Welt und der Türkei unterstützt, während
zumindest Teile des Westens das Erstarken der Islamisten innerhalb der
syrischen Opposition mit Unbehagen beobachten. Der syrische Bürgerkrieg ist
also ein Krieg um die Macht im syrischen Nationalstaat. Ein Machtkampf, in
dem eine nicht gerade übersichtliche Gemengelage an Interessen und Fronten
sich in den letzten zweieinhalb Jahren entwickelt hat.

 

Wir wollen den Blick allerdings auf eine andere Konfliktpartei im syrischen
Bürgerkrieg lenken. Dieser geht es nicht um die Machtfrage innerhalb des
syrischen Nationalstaats. Sie stellt die Systemfrage. Wie kann ein nach dem
Ersten Weltkrieg im Interesse der Siegermächte erschaffener künstlicher
Nationalstaat derart umgestaltet werden, dass die unterschiedlichen
Volksgruppen und Religionsgemeinschaften innerhalb der Grenzen dieses
Staates friedlich und auf gleicher Augenhöhe miteinander leben können? Die
Suche nach der Antwort auf diese Frage treibt den Widerstand dieser
Konfliktpartei an. Da ihr Ziel nicht die Machtergreifung ist, träumt sie
auch nicht davon, das syrische Staatsgebiet unter ihre Kontrolle zu bringen.
Ihr geht es vor allem darum, ihre eigenen Gebiete vor den anderen
bewaffneten Gruppen zu schützen und in ihren Gebieten ihr alternatives
System aufzubauen. Die in Syrien lebenden KurdInnen sind die treibende Kraft
in dieser Konfliktpartei. Doch auch immer mehr andere Teile der syrischen
Gesellschaft sympathisieren mit diesem dritten Weg innerhalb des
Bürgerkriegs.

 

Der dritte Weg für Syrien heißt, sich weder auf die Seite des
antidemokratischen und diktatorischen Baath-Regimes zu stellen, noch sich
auf Seiten der im Interesse des Westens und einiger Regionalkräfte wie
Saudi-Arabien, Katar und Türkei agierenden FSA oder der Islamisten zu
positionieren. Der dritte Weg heißt, für einen demokratischen Wandel in
Syrien einzutreten, der von der Bevölkerung Syriens selbst ausgehen muss.
Das Gesellschaftsmodell, mit dem das friedliche Miteinander der Menschen
ermöglicht werden soll, bezeichnen die KurdInnen als „Demokratische
Autonomie“. Ein Modell, in dem die Menschen sich auf kommunaler Ebene
demokratisch selbstverwalten sollen. Jede gesellschaftliche Gruppe soll sich
innerhalb dieser Strukturen organisieren und für ihre Interessen eintreten
können. Die KurdInnen in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) haben bereits
angefangen, dieses Modell mit Leben zu füllen. Sie organisieren sich in den
Städten und Dörfern Rojavas, bauen ihre demokratischen
Selbstverwaltungsstrukturen auf und versuchen das öffentliche Leben, soweit
das in einem Bürgerkrieg möglich ist, aufrechtzuerhalten.

 

Dr. Nasir Hadschi Mansur ist von Anfang an am Aufbau dieser Strukturen
beteiligt. Er ist Mitglied der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft
(TEV-DEM), die für die lokale Selbstorganisierung der Bevölkerung
verantwortlich ist. Die Demokratische Autonomie stellt das Netzwerk all
dieser lokalen Selbstverwaltungsstrukturen dar. Mansur beschreibt das
Selbstverständnis dieses Systems wie folgt: „Wir arbeiten für die
Demokratische Autonomie. Dafür schaffen wir überall unsere demokratischen
Strukturen. Sowohl in den Städten als auch in den Dörfern haben wir
Volksratsstrukturen etabliert. Mit diesen Strukturen wollen wir auch
erreichen, dass trotz Knappheit die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung
koordiniert wird. So haben wir für die Wasser-, Strom- und Benzinversorgung
Komitees aus der Bevölkerung gebildet. Das sind Bedürfnisse, die lokal
vorherrschen. Für lokale Probleme muss man versuchen, lokal unter Einbindung
der Bevölkerung Antworten zu finden. Denn sie kennen sowohl ihre Probleme
als auch ihre lokalen Bedingungen am besten. Wir denken, dass dies der
richtige Weg ist, und dass dieser Weg nicht durch einen Zentralstaat
versperrt werden darf.“

 

Für die syrische Zentralregierung, die FSA, aber auch für den Nachbarstaat
Türkei ist die Demokratische Autonomie ein rotes Tuch. Sie unterstellen den
KurdInnen Separationsabsichten. Die Demokratische Autonomie sei nur eine
taktische Zwischenstufe in Richtung eines kurdischen Staatsgebildes
innerhalb Syriens. Deshalb wollen sie, so schnell es geht, die kurdischen
Selbstverwaltungsstrukturen wieder zerstören und Rojava in ihren
Machtbereich (wieder) eingliedern. Die Bevölkerung Rojavas führt gegen diese
Angriffe, die derzeit von allen Seiten kommen, einen
Selbstverteidigungskrieg. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG)
befinden sich mit islamistischen Gruppen, die von der Türkei unterstützt
werden, gleich an mehreren Fronten im Krieg. Gleichzeitig kommt es immer
wieder zu Angriffen des Baath-Regimes auf die kurdische Bevölkerung. Und
auch die FSA hat den KurdInnen in Syrien den Krieg erklärt. Neben der
bewaffneten Selbstverteidigung lautet die Reaktion der kurdischen
Bevölkerung darauf, den Aufbau der Demokratischen Autonomie in Rojava zu
beschleunigen.

 

Wie dies konkret aussehen soll, erklärte die PYD-Kovorsitzende Asya Abdullah
auf einer Pressekonferenz in Qamislo am 14. August: „Wir haben unser Projekt
VertreterInnen der KurdInnen, AraberInnen, AssyrerInnen und ArmenierInnen
vorgestellt. Wir haben mit allen diskutiert und sie dazu eingeladen, beim
Aufbau des Projekts mitzuwirken. Nun werden wir mit allen Kreisen gemeinsam
Sitzungen abhalten, auf denen wir über die nächste Stufe des Aufbaus der
Demokratischen Autonomie sprechen werden. Es soll eine Art
Gesellschaftsvertrag ausgearbeitet und eine an ihn angebundene Kommission
aus allen Teilen der Gesellschaft gegründet werden. Diese Kommission soll
Bedingungen für eine demokratische Wahl in Rojava erarbeiten. Die
Bevölkerung soll ihre VertrerInnen wählen. Im Idealfall soll diese Wahl
binnen sechs Monaten stattfinden. Rojava braucht eine demokratisch gewählte
Vertretung, die alle Teile der Gesellschaft dieser Region repräsentiert.
Gleichzeitig wird die Basisorganisierung vorangetrieben. Die gewählte
Vertretung schafft die Rahmenbedingungen für eine kommunale
Selbstorganisierung der Bevölkerung und tritt nach außen hin als der
Ansprechpartner für dieses System auf.“

 

Die gewählte Vertretung für Rojava wird die Aufgaben des Kurdischen Hohen
Rates übernehmen, der als Zusammenschluss der bedeutendsten kurdischen
Parteien in Syrien bisher die Funktion der politischen Vertretung Rojavas
innehatte. Ursprünglich war bereits bei der Gründung des Kurdischen Hohen
Rates geplant gewesen, binnen sechs Monaten die Vorbereitungen für eine
demokratische Wahl in der Region abzuschließen. Doch aufgrund der
Kriegssituation und interner Schwierigkeiten wurde dieser Beschluss nie
umgesetzt. Mit der nun angekündigten Wahl soll endlich der Beschluss des
Rates realisiert werden.

 

Mit diesen Schritten soll sowohl der Aufbau des eigenen Systems besser vor
Angriffen geschützt als auch einer syrienweiten Demokratisierung der Weg
geebnet werden. Auch wenn die Demokratische Autonomie derzeit allein in
Rojava konkretere Züge annimmt, könnte sie als Modell auch für die anderen
Regionen im Land eine Alternative darstellen. Der Kampf und der Widerstand
für den dritten Weg erscheint derzeit als die einzig sinnvolle Alternative,
bei der sich die Völker, um es in den Worten des PYD-Kovorsitzenden Salih
Muslim zu sagen, auch nach dem Ende des Baath-Regimes in die Augen schauen
können.

 

Nachtrag des Autors:

In den letzten Tagen erreichten uns Meldungen, in denen die Rede von bis zu
30.000 Flüchtlingen aus Rojava in Richtung Südkurdistan die Rede ist. Wir
berichteten auch auf unserer Homepage davon (zur Pressemitteilung zu den
Flüchtlingsströmen aus Rojava kann man hier gelangen). Eine bewusste Politik
der Entbevölkerung Rojavas, ist sicherlich auch als ein Angriff derjenigen
zu werten, denen der Aufbau der Demokratischen Autonomie ein Dorn im Auge
ist.

 

Quelle:
http://civaka-azad.org/index.php/474-die-bevoelkerung-von-rojava-soll-entsch
eiden.html

 

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