[imc-presse] PE " Der Fehler liegt im System: Nebenklagevertreter im NSU Prozess kritisieren den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Bundestages als inkonsequent

RAV e.V. gs at rav.de
Thu Aug 22 12:29:58 CEST 2013


Weiterleitung zur Kenntnis und Information (evtl. Doppelsendungen bitten wir
zu entschuldigen)

 

17 Nebenklagevertreter_innen im NSU-Verfahren - darunter auch RAV-Mitglieder
- kritisieren den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des
Bundestages als inkonsequent.

Sie kritisieren insbesondere, dass der institutionelle Rassismus als
entscheidendes Problem nicht benannt wird und fordern eine weitergehende
Aufklärung durch einen neu einzusetzenden Untersuchungsausschuss.

Sie formulieren konkrete Maßnahmen, die institutionellem Rassismus entgegen
wirken und vorbeugen sollen, u.a. neu zu bildende Abteilungen bei der
Polizei und den Staatsanwaltschaften, die speziell im Hinblick auf rechte
Gewaltstraftaten qualifiziert und sensibilisiert sind, sowie die Anwerbung
von Beamt_innen mit Migrationshintergrund  für Führungspositionen.

 

PRESSEERKLÄRUNG

 

Der Fehler liegt im System:

Nebenklagevertreter im NSU Prozess kritisieren den Abschlussbericht des
Untersuchungsausschusses des Bundestages als inkonsequent.

 

„Sie dürfen nicht den Fehler machen, die Dinge aus heutiger Sicht zu
beurteilen. Damals hatten wir  keine Hinweise auf einen fremdenfeindlichen
Hintergrund“, erklärt der pensionierte Kriminaloberrat Wilfling am
11.07.2013 bei seiner Aussage im Prozess gegen Beate Zschäpe u.a. vor dem
Oberlandesgericht München. „Jetzt tun Sie mal nicht so, als würde es keine
türkische Drogenmafia geben“.

 

Wilfling ist als Münchener Mordermittler langjährig erfahren. Er hat Bücher
über seine Arbeit veröffentlicht und würde sich nie als Rassist sehen. Und
doch verdeutlicht seine Aussage das Problem: Das katastrophale Versagen der
Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU ist keine
Summe der Fehler von Einzelnen. Der Fehler liegt im System. Vorurteile
werden nicht hinterfragt. „Ausländer“ müssen von „Ausländern“ ermordet
worden sein. Hintergründe sind selbstverständlich im Bereich Organisierter
Kriminalität zu suchen.

 

Mangelndes Engagement kann man den Ermittlungsbehörden dabei freilich nicht
vorwerfen. Hunderte Zeuginnen und Zeugen wurden selbst in der Türkei
verhört, Drogenhunde eingesetzt, fingierte Dönerbuden eröffnet, verdeckte
Ermittler als Journalisten eingesetzt, Steuerbanderolen auf
Zigarettenschachteln überprüft; selbst ein Wahrsager wurde befragt. Über elf
Jahre fahndeten hunderte Ermittler in die falsche Richtung. Alle Zeugen,
alle Analysen, alle Beweismittel, die auf rassistisch motivierte Anschläge
hindeuteten, wurden konsequent ignoriert.

 

Heute wird dazu der Bericht des Untersuchungsausschuss des Bundestages
veröffentlicht. Genau das entscheidende Problem wird darin in der
gemeinsamen Wertung nicht benannt: 

 

Institutioneller Rassismus

 

Unabhängig von der persönlichen Einstellung und den Absichten der Beamten,
folgen die Ermittlungsbehörden einer inneren Logik, Normen und Werten, deren
rassistische Konsequenzen sich unter anderem in den Ermittlungen zur Mord-
und Anschlagsserie des NSU wiederfinden. 

 

Hochgelobt für das parteiübergreifende Engagement der Obleute, schafft es
nun zu Zeiten des Wahlkampfs gerade der Untersuchungsausschuss nicht, das
Problem so zu bezeichnen, wie es sich uns präsentiert. Wir sind
RechtsanwältInnen und NebenklagevertreterInnen im so genannten NSU-Prozess
vor dem Oberlandesgericht München. Wir haben die Akten gelesen. Wir haben
Zeuginnen und Zeugen gehört. Wir haben aber vor allen Dingen von unseren
Mandantinnen und Mandanten erfahren, wie sie nach den Taten jahrelang selbst
im Fokus der Ermittlungen stehen mussten.

 

Das heißt:

 

1.            Hinterbliebene und Verletzte fordern die Anerkennung auch in
der Politik, dass das systematische Versagen der Ermittlungsbehörden auf
institutionellem Rassismus beruht. Das Problem muss klar benannt werden.
Alles andere wäre Augenwischerei. Morde hätten verhindert werden können.  

2.            Wir fordern eine Neueinsetzung des Untersuchungsausschusses in
der nächsten Legislaturperiode. Eine lückenlose Aufklärung der Taten des NSU
und der möglichen Verwicklungen der Ermittlungsbehörden und des
Verfassungsschutzes ist lange nicht abgeschlossen. 

3.            Bei jedem Gewaltverbrechen muss in Zukunft frühzeitig und
nachvollziehbar in den Akten vermerkt und begründet werden, wenn die
Ermittlungsbehörden der Auffassung sind, dass eine rassistisch oder
neonazistisch motivierte Tat ausgeschlossen werden kann. 

 

4.            Wir fordern eine Ausbildung und stetige Qualifikation aller
Polizeibeamten, die institutionellem wie individuellem Rassismus
entgegenwirkt. Zudem müssen gut ausgebildete und szenekundige Abteilungen
bei den Landespolizeien neu aufgebaut und neu besetzt werden, die sich
spezifisch mit rechter Gewalt beschäftigen und allgemeine Abteilungen für
„Staatsschutzdelikte“ ersetzen. Diese Ermittlungsgruppen müssen zukünftig
immer dann zwingend an den Ermittlungen beteiligt werden, wenn ein rechter
Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann. 

5.            Bei den Staatsanwaltschaften müssen Abteilungen gebildet
werden, die für rechte Gewalttaten gesondert zuständig und ausgebildet sind.
Abteilungen, die allgemein für „politisch motivierte“ Taten oder gar
zusätzlich für Delikte von und gegen Polizeibeamte zuständig sind, genügen
dafür keinesfalls. 

6.            Es muss verstärkt darauf hingewirkt werden, dass BeamtInnen
mit Migrationshintergrund auch in Führungspositionen geworben werden. Weil
dies bislang offensichtlich nicht gelungen ist, sollte zur Umsetzung
zunächst eine verbindliche Quote festgesetzt werden. Rassistischen Tendenzen
innerhalb der Ermittlungsbehörden muss konsequent – auch disziplinarisch -
entgegengewirkt werden.

7.            Das V-Mann-System der Verfassungsschutzbehörden hat versagt
und gehört aufgelöst. Es fördert rechtsradikale Entwicklungen mehr, als dass
er sie verhindert. Der Verfassungsschutz hat gerade im Hinblick auf den NSU
bewiesen, dass enorme Ressourcen in V-Leute gesteckt wurden, die nur
bekannte, zu wenig oder gar bewusste Falschinformation geliefert haben. Das
Geld der V-Leute ist teilweise in den Aufbau von Neonazi-Strukturen
geflossen. Ein Verbotsverfahren hinsichtlich der NPD scheiterte auch an der
weitgehenden Integration von V-Leuten in der Partei bis in die
Führungsspitze. Es bleibt grundsätzlich zu diskutieren, inwieweit die
notwendige Aufklärung über neonazistische Aktivitäten ausschließlich die
Polizeibehörden besorgen können.

8.            Opfer rechter Gewalt seit 1990 sind lückenlos entsprechend der
Liste der Amadeu Antonio Stiftung, der „Zeit“ und des „Tagesspiegels“ als
solche anzuerkennen.

9.            Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt müssen erhalten,
flächendeckend ausgebaut und gefördert werden.

10.          Es sind auf Landes- und Bundesebene Kontrollgremien
einzuführen, die als unabhängige Ansprechpartner für Betroffene von
institutionellem oder persönlichem Rassismus durch die Ermittlungsbehörden
oder für „Whistleblower“ in solchen Fällen zur Verfügung stehen. Diese
sollten mit effektiven Kontrollbefugnissen ausgestattet und durch das
Parlament eingesetzt werden. 

 

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte

 

Antonia von der Behrens,

Dr. Mehmet Daimagüler,

Dr. Björn Elberling

Berthold Fresenius,

Alexander Hoffmann,

Carsten Ilius, 

Detlef Kolloge,

Stephan Kuhn,

Angelika Lex,

Stephan Lucas,

Ogün Parlayan,

Jens Rabe,

Eberhard Reinecke,

Aziz Sariyar,

Sebastian Scharmer,

Reinhard Schön,

Peer Stolle.

 

 

--------------------------------------------------

Mit freundlichen Grüßen

 

Ilona Picker

RAV-Geschäftsstelle

 

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.

Greifswalder Str. 4 | 10405 Berlin

Tel 030.41723555 | Fax 030.41723557

www.rav.de <http://www.rav.de/>  | kontakt at rav.de

Mo - Fr 10 -16h

 

 

-------------- next part --------------
An HTML attachment was scrubbed...
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20130822/9f18fc50/attachment-0001.htm>
-------------- next part --------------
A non-text attachment was scrubbed...
Name: sn_abschlussbericht_deutsch.pdf
Type: application/pdf
Size: 17298 bytes
Desc: not available
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20130822/9f18fc50/attachment-0003.pdf>
-------------- next part --------------
A non-text attachment was scrubbed...
Name: sn_abschlussbericht_english.pdf
Type: application/pdf
Size: 24090 bytes
Desc: not available
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20130822/9f18fc50/attachment-0004.pdf>
-------------- next part --------------
A non-text attachment was scrubbed...
Name: sn_abschlussbericht_t?rkisch.pdf
Type: application/pdf
Size: 40447 bytes
Desc: not available
URL: </pipermail/imc-presse/attachments/20130822/9f18fc50/attachment-0005.pdf>


More information about the imc-presse mailing list