[imc-presse] Pressemitteilung_Türkische Anwaltschaft in Gefahr - Die Verteidigung der Verteidigung in Haft
RAV e.V.
gs at rav.de
Thu Apr 4 13:52:01 CEST 2013
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
hier folgend und im Anhang senden wir Ihnen eine gemeinsame
Pressemitteilung des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins
(RAV) und der Vereinigung Berliner Strafverteidiger zum 6.
Verhandlungstag im Großverfahren gegen 46 Anwältinnen und Anwälte in der
Türkei.
Wir bitten um Kenntnisnahme und Veröffentlichung in Ihren Medien.
Mit besten Grüßen
Sigrid v. Klinggräff
RAV-Geschäftsstelle
***
Pressemitteilung
Anwaltschaft in Gefahr: Die Verteidigung der Verteidigung in Haft
Fortsetzung des Großverfahrens gegen 46 Anwältinnen und Anwälte in der
Türkei
Am 28. März 2013 fand der 6. Verhandlungstag in dem Massenverfahren
(sog. KÇK-Verfahren) gegen 46 überwiegend kurdische AnwältInnen in
Silivri bei Istanbul statt.
Aus Deutschland waren VertreterInnen des RAV, des DAV(1) und der
Berliner Strafverteidigervereinigung anwesend, die das Verfahren als
Teil der internationalen Delegation, bestehend aus 41 AnwältInnen
verschiedener Anwaltskammern und -organisationen, beobachteten. Es war
ein historischer Tag: Zum ersten Mal konnten sich die angeklagten
KollegInnen vor Gericht auf Kurdisch – ihrer Muttersprache –
verteidigen. Möglich war dies durch ein erst im Februar dieses Jahres in
Kraft getretenes Gesetz, welches erstmals in der Geschichte der
Türkischen Republik – wenn auch eingeschränkt – die Verteidigung in der
Muttersprache der Angeklagten zuließ, unabhängig vom Vorhandensein
türkischer Sprachkenntnisse.
Überschattet wurde dieser historische Moment durch die Abwesenheit von
neun der VerteidigerInnen der angeklagten KollegInnen. Sie waren am 18.
Januar 2013 im Rahmen einer Großrazzia verhaftet worden. Hintergrund ist
ein weiteres Verfahren gegen die Anwaltschaft: Dieses Mal richtet es
sich gegen 16 Mitglieder des Zeitgenössischen Anwaltsvereins (ÇHD). Den
im Januar Festgenommenen wird ihre berufliche Tätigkeit im Rahmen der
Anti-Terror-Gesetze ebenso zum Vorwurf gemacht (2), wie auch den
angeklagten KollegInnen in dem beobachteten sog. KÇK-Verfahren.
Inzwischen besteht die begründete Sorge in der Anwaltschaft, dass
weitere Verhaftungen von AnwältInnen folgen werden: Ende Januar 2013
wurde Anklage gegen den Präsidenten der Istanbuler Anwaltskammer, Dr.
Ümit Kocasakal, erhoben. Ihm wird Behinderung der Justiz vorgeworfen,
weil er sich im Namen der Kammer für die Durchsetzung von
Verteidigungsrechten in einem der sogenannten Ergenekon
(nationalistischen Untergrundorganisation)-Verfahren eingesetzt hatte.
Zwei weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den gesamten Kammervorstand.
„Der Angriff auf die Anwaltschaft wird mit einer beängstigenden
Systematik und Konsequenz geführt. Es scheint, dass die gesamte
politische Opposition durch die Ausschaltung ihrer Verteidigung rechtlos
gestellt werden soll“, so Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, die das
Verfahren in Silivri für den RAV beobachtete.
Dass die Vorwürfe ausschließlich an ihre berufliche Tätigkeit anknüpfen,
legten die angeklagten KollegInnen nach 17 Monaten Untersuchungshaft an
diesem 6. Hauptverhandlungstag im Rahmen ihrer Einlassung dar. Auf die
Frage des Gerichts an einen der anklagten Kollegen, ob dieser in der
verbotenen KCK tätig gewesen sei, antwortete er: „Wenn ich einer
Organisation angehöre, dann ist es die Anwaltskammer, meine Waffen sind
Stift und Zunge“.
Unhaltbar sind zudem die verfahrensrechtlichen Verstöße gegen das
Beschleunigungsgebot und das Begründungserfordernis, die das
Verteidigungsrecht der KollegInnen erheblich einschränken. Das Gericht
verhandelt lediglich alle drei Monate für nur einen Tag. Dies führte an
diesem Verhandlungstag dazu, dass sich die angeklagten KollegInnen bei
ihren Erklärungen zur Sache kurz fassen mussten, damit auch die anderen
Angeklagten überhaupt noch zu Wort kommen konnten. Nur 21 der 46
Angeklagten konnten sich äußern. Das Gericht vertagte sich auf den 20.
Juni 2013 und verschonte drei Kollegen und eine Kollegin von der
Untersuchungshaft. Eine Begründung dieser Entscheidung erfolgte - wie
auch die letzten Male - nicht, obwohl die türkische Strafprozessordnung
dies zwingend vorsieht. Für die internationale Beobachtungsdelegation
ist daher vollkommen unklar, warum nicht alle Angeklagten haftverschont
wurden.
Allein in diesem Verfahren befinden sich weiterhin 22 AnwältInnen und
jetzt auch 9 ihrer VerteidigerInnen in Untersuchungshaft.
Mit der Kriminalisierung der Verteidigung werden rechtsstaatliche
Grundprinzipien ad absurdum geführt. Gemäß Artikel 16 der
„UN-Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte“ vom 7.
September 1990 hat der Staat sicherzustellen, dass Anwältinnen und
Anwälte in der Lage sind, alle ihre beruflichen Aufgaben ohne
Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung
wahrzunehmen.
Die internationale Delegation hat ihre Forderungen nach Einhaltung
dieser UN-Grundprinzipien und Freilassung der inhaftierten KollegInnen
dem türkischen Justizministerium in einer Petition am 29. März 2013 zur
Kenntnis gebracht(3). Eine Reaktion der türkischen Regierung erfolgte
bisher nicht.
Berlin, 4. April 2013
Bei Rückfragen stehen Ihnen Rechtsanwältin Schönberg (Berliner
Strafverteidigervereinigung e.V.; Tel.: 030-6937086) und Rechtsanwältin
Nedelmann (RAV e.V.; Tel.: 030-54716772) zur Verfügung.
(1) Vgl. auch:
http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-1113?PHPSESSID=0fq3vb0se4s5iaeo7n3qjpjki1
(2) Vgl. PE vom 25.01.2013:
http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-0313
bzw.
http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/erneute-massenverhaftung-von-rechtsanwaeltinnen-und-rechtsanwaelten-in-der-tuerkei-281/page1/
(3)
http://www.advocatenvooradvocaten.nl/wp-content/uploads/petition29March2013-1.pdf
***
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4 | 10405 Berlin
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