[imc-presse] PM Prozess gemäß § 129b gegen Kurden vor dem OLG Hamburg

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Tue Aug 14 08:48:42 CEST 2012


*Presemitteilung*

*Bündnis Freiheit für Ali Ihsan*


 *Prozessauftakt im § 129 b Verfahren gegen Ali Ihsan Kitay *

*Ermächtigung des Justizministeriums zur Verfolgung ohne Rechtsgrundlage *

*Erneute Kriminalisierung trotz jahrelang erlittener Folter*


 Am Montag, den 13. August, hat vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg das
Verfahren gegen den kurdischen Politiker und Aktivisten Ali Ihsan Kitay
begonnen. Ca. 90 Menschen beobachteten solidarisch den Prozessauftakt. Um
einen Einblick in das intensive Prozessgeschehen des ersten Tages zu geben
informieren wir im Folgenden ausführlich.



 *Anklage*


 Zu Anfang des Prozesses verlas die Vertreterin der Bundesanwaltschaft
(BAW) eine Kurzfassung der Anklageschrift. Der Vorwurf gegen Ali Ihsan
Kitay lautet, dass er sich von Mai 2007 bis Mitte September 2008 in
Hamburg, Kiel, Bremen, Oldenburg und an weiteren Orten in der
Bundesrepublik Deutschland sowie im Nord-Irak als Mitglied an einer
„terroristischen Vereinigung im Ausland“ beteiligt habe. In diesem Rahmen
soll er als Kader der PKK und der CDK ab Mai 2007 das Gebiet Hamburg und ab
Juni 2007 zusätzlich die Region Hamburg geleitet haben. Straftaten in
Deutschland werden ihm nicht vorgeworfen.



 *Anträge der Verteidigung*


 Die Verteidigung thematisierte die Problematik des §129 b und stellte zwei
Anträge.


 *1. Ermächtigung des Justizministeriums ohne Grundlage*


 Das Verfahren müsse eingestellt und der Mandant frei gelassen werden, da
es an der Verfahrensvoraussetzung, einer rechtmäßig zustande gekommenen
Ermächtigung zur Strafverfolgung durch das Bundesministerium für Justiz
(BMJ) fehle. Die dem Gericht vorliegende Ermächtigung sei unter einem
derart „krassen Ermessensausfall“ (juristischer Fachbegriff) zustande
gekommen, dass diese nur als nichtig betrachtet werden könne. Der „krasse
Ermessensausfall“ liegt aus Sicht der Verteidigung u.a. darin, dass die
Ermächtigung zur Verfolgung gemäß §129b StGB gegeben wurde, ohne
menschenrechtliche und völkerrechtliche Aspekte in Erwägung zu ziehen.


 Das BMJ habe lediglich die völlig einseitigen Ausführungen der BAW zur
Grundlage genommen, in denen weder auf die Geschichte des Konflikts
zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung, noch auf die
gesellschaftliche Realität in der Türkei sowie die kontinuierlichen
staatlichen Gewaltakte gegen die kurdische Bevölkerung Bezug genommen
werde. Jahrzehntelanges Leid und gravierende Menschenrechtsverletzungen bis
hin zu extralegalen Hinrichtungen und Folter wären in der
Entscheidungsfindung völlig ausgeblendet worden.


 In der Erklärung der Verteidigung wurde deutlich, dass in der Türkei in
den letzten Jahrzehnten, bis heute kontinuierlich schwerste
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen stattfinden. Belegt wurde
dies anhand von Zitaten aus Urteilen von europäischen und deutschen
Gerichten, Berichten des Auswärtigen Amtes, Berichten von Amnesty
International, Expertengutachten und Zeitungsartikeln. Besonders
kritisierte die Verteidigung die Inhaftierung mehrerer tausend KurdInnen
(darunter u.a. über 200 gewählte PolitikerInnen und 50 AnwältInnen) seit
2009 und systematische Angriffe auf die Zivilbevölkerung, wie z.B. im
Dezember 2011 in Roboski, nahe der türkisch-irakischen Grenze, wo 34
ZivilistInnen per Bombardement durch die türkisches Luftwaffe getötet
wurden. Rechtsanwalt Carsten Gericke legte die historische Entwicklung und
Kontinuität der staatlichen Gewalt seit den 1990er Jahren an einer Vielzahl
von Beispielen anschaulich dar.


 Zudem geht die Verteidigung davon aus, dass der Beamte des BMJ der die
Ermächtigung unterzeichnete, Dr. Boehm, nicht dafür zuständig gewesen ist,
da ihm die Kompetenz für eine derartige, weitreichende politische
Grundsatzentscheidung gefehlt habe. Diese Entscheidung hätte vielmehr auf
höchster Ebene getroffen werden müssen. Zusätzlich werde sehenden Auges und
politisch gewollt durch den § 129 b StGB zur Politisierung und
Instrumentalisierung der Strafjustiz geführt. Dies sei ein Novum deutscher
Rechtsgeschichte. Es würde damit der Regierung ein breiter Spielraum
gegeben, die strafrechtliche Verfolgung nach strategischen und
außenpolitischen Interessen zu steuern. In der strafrechtlichen Literatur
werde dies auch durchaus kritisch gesehen.


 Das Gericht vertagte die Entscheidung über diesen Antrag - auf einen
„angemessenen Zeitpunkt“ - und entschied das Verfahren bis dahin
fortzusetzen.


 *2. Bundesanwaltschaft hält Akten zurück - unfaires Verfahren*


 In einem zweiten Antrag kritisierte die Verteidigung mangelnde
Akteneinsicht. Dies bedeute massive Verstöße gegen die Grundsätze der
„Waffengleichheit“ und ein faires Verfahren. Die BAW habe wesentliche ihr
selbst für eine angemessene Befragung von Zeugen aus den Reihen des
Bundeskriminalamts (BKA) vorliegende Akten gegenüber Gericht und
Verteidigung zurück-gehalten. Daher solle der Prozess bis Nachreichung der
Akten ausgesetzt werden. An mehreren Beispielen verdeutlichte die
Verteidigung, dass wesentliche Teile des Anklagekonstrukts auf
Erkenntnissen aus Rechtshilfeersuchen an Belgien und die Türkei sowie Akten
über die Struktur der PKK - und der ihr seitens der Verfolgungsbehörden
zugeordneten Organisationen - beruhen, die seitens der BAW zurückgehalten
werden. „Die BAW hält mit Absicht Erkenntnisse und Akten zurück, um diese
wenn es ihr passt, aus dem Hut zu zaubern“, so Rechtsanwalt Gericke in der
Antragsbegründung.


 Das Gericht lehnte diesen Antrag ohne nachvollziehbare Begründung ab, da
die Akteneinsicht auch im Verlauf des Verfahrens rechtzeitig gegeben werden
könne.



 *Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay*


 Am Nachmittag der Verhandlung gab Ali Ihsan Kitay eine politische
Erklärung ab.


 *Die Realität in den kurdischen Provinzen der Türkei*


 Der Politiker und Aktivist schilderte eindrücklich die Realität in den
kurdischen Provinzen der Türkei. „Jeder Mensch definiert sich aus dem
Spannungsfeld zwischen seiner individuellen Entwicklung und den
gesellschaftlichen Verhältnissen. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen, das
durch seine Bezüge zu anderen Menschen lebt und hat das Recht sich in
solchen Beziehungen zu finden. Dieser Findungsprozess spielt sich
insbesondere in der Jugend der Menschen ab. Je weiter entfernt eine
Gesellschaft von sozialen Idealen ist, umso schwieriger ist dieser
Prozess“, so Kitay.

Zudem skizzierte er die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung und
die Schwierigkeit der Betroffenen dabei diese in Ländern wie der Türkei,
bei ständiger Gewaltandrohung- und Ausübung durch staatliche Kräfte und der
Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen, umzusetzen. Kitay beschrieb die
Entwicklung der Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen
Bevölkerungsgruppe von Beginn des 20 Jahrhunderts an. Nach mehreren brutal
niedergeschlagenen Aufständen in den 1930-er Jahren sei der Konflikt seit
Mitte 1980 wieder zu einer militärischen Auseinandersetzung geworden. Die
Allgegenwärtigkeit des Leids der Bevölkerung durch Folter, Vergewaltigungen
und 17.000 Morde unbekannter Täter von denen auch Kinder und Alte Menschen
betroffen waren und sind sowie der Versuch der Vernichtung der kurdischen
Kultur und der „Schmutzige Krieg“ und die psychologische Kriegsführung
seien nicht hinnehmbar gewesen.


 Kitay selbst war seit seiner Kindheit in seiner Heimatstadt Bingöl mit
Gewalt und Folter durch Soldaten und staatliche Kräfte konfrontiert. Viele
seiner Familienmitglieder wurden gefoltert und im Verlauf der lang
anhaltenden Unterdrückungs- und Assimilationspolitik gegen die kurdische
Bevölkerung ermordet. Er selbst habe sich in seiner Jugend dazu
positionieren müssen - und sich nach langem innerlichen Dialog dafür
entschieden Widerstand zu leisten. In einer Männerdominierten - und Frauen
auf Objekte reduzierenden - Gesellschaft, habe er sich der
Gleichberechtigung der Frau besonders verpflichtet gefühlt und dem
entsprechend eine besonders innige Beziehung zu seiner Mutter aufgebaut.
„Schon immer habe ich mich gegen Diskriminierung und Unrecht eingesetzt,“
so Ali Ihsan Kitay. Den Menschen bleibe aufgrund der beschriebenen Gewalt
bishin zu Kriegsverbrechen lediglich die Möglichkeit sich Unrecht und
staatlicher Gewalt unterzuordnen und innerlich zu zerbrechen oder
Widerstand zu leisten. Der Entschluss, sich damals der PKK anzuschließen,
fiel ihm insbesondere in Bezug auf seine enge Bindung zur Mutter besonders
schwer.


 *Die Zeit in türkischen Gefängnissen und Folter*


 Mehrfach wurde der Aktivist in der Folgezeit verhaftet. Insgesamt
verbrachte er 20 Jahre in türkischen Gefängnissen und wurde vielfach schwer
gefoltert. Eindringlich schilderte Ali Ihsan Kitay die gegen ihn angewandte
Folter und ihre Auswirkungen. „Es fällt mir nicht leicht über diese
Erlebnisse zu sprechen oder zu schreiben. Immer wieder kommen mir dann die
Bilder ins Gedächtnis - wenn das Unterbewusstsein erst mal geweckt ist. Ich
wurde über Tage mit verbundenen Augen gefoltert - wurde getreten und mit
Gegenständen und Fäusten geschlagen, neben meinem Kopf wurden Schusswaffen
abgefeuert, meine Hoden gequetscht. Ich wurde an den Füssen aufgehängt und
mit Druckwasserschläuchen und Elektroschocks gefoltert - mehrfach hat man
mir den Tod angedroht. Und dann wird man in eine Zelle zurückgebracht - mit
verbundenen Augen - und hört die Schreie der Mitgefangenen in der Folter.
Durch die Unsicherheit und die Angst sollen die Menschen physisch und
psychisch gebrochen werden. Man verliert das Gefühl für die Zeit - weiß
nicht ob es Tag oder Nacht ist. Man wartet dann was als nächstes kommt - in
jedem Moment kann die Folter von Neuem beginnen. Mir wurde angedroht, dass
sämtliche Foltermethoden an mir auch vor den Augen meiner Familie
durchgeführt werden. In manchen Momenten der Folter erscheint einem der Tod
als willkommener, als weiter solche Qualen durchzustehen.“


 „Man kann zwar die Praktiken beschreiben, aber was das mit einem Menschen
macht - das kann man mit Worten nicht fassen. Nur meine Hoffnung und meine
Überzeugung, dass ich für den Frieden und die Gerechtigkeit kämpfe - und
mein Wille - haben mich am Leben gehalten. Eigentlich muss man nach
erlebter Folter das Geschehen aufarbeiten. Im Gefängnis ist man jedoch
immer wieder erneut bedroht. Man lebt dort in einer unbeschreiblichen Welt,
wie in einer Streichholzschachtel“, erklärte Kitay. Mehrmals war er über
mehrere Jahre Inhaftiert und konnte zweimal fliehen. Einige seiner
Mithäftlinge starben bei den Fluchtversuchen oder wurden durch Folter
ermordet. Kitay selbst wurde jeweils erneut verhaftet - und dann schwerer
als zuvor gefoltert. Zu keinem Zeitpunkt hat er eine Aussage gemacht. Auch
diese Stärke hielt ihn am Leben. Nach seiner letzten Haftentlassung wurde
er erneut systematisch von „Sicherheitskräften“ bedroht – und immer wieder
in Gewahrsam genommen - so dass Ali Ihsan Kitay schließlich zuerst von
Bingöl nach Istanbul und dann nach Deutschland floh, wo er aus politischen
Gründen Asyl bekam. „Kein Mensch verlässt freiwillig seine Familie und
Freunde. Diejenigen die man liebt, in der Heimat zurückzulassen ist sehr
schwer- aber wenn einem das Leben unmöglich gemacht wird - und man ständig
bedroht wird, gibt es keinen anderen Ausweg“, erklärte Ali Ihsan Kitay.


 *Haftbedingungen in der Bundesrepublik*


 Der Aktivist der kurdischen Bewegung saß auch in der Bundesrepublik ohne
rechtliche Grundlage von Oktober 2011 bis Juni 2012 in Isolationshaft - und
erst seitdem in „verschärftem“ Normalvollzug. Die Gespräche mit
BesucherInnen finden noch immer hinter einer Trennscheibe im Beisein von
Beamten des Landeskriminalamtes (LKA) statt und werden filmisch
aufgezeichnet. Die Post einschließlich der Verteidigerpost wird überwacht.
Aufgrund der Dunkelheit in seiner Zelle hat Ali Ihsan Kitay mittlerweile
Sehstörungen.


 *Wege zur Lösung - Wege zum Frieden*


 „Die kurdische Bewegung setzt sich seit Jahren für Frieden ein - es ist
der türkische Staat der mit einer Spirale der Gewalt eine Lösung des
Konflikts unmöglich macht. Jeder Mensch in den kurdischen Provinzen des
Landes muss sich zu dem Konflikt positionieren. Vielen bleibt nur der Weg
in die Berge oder ins Exil. Die Internationalen Persönlichkeiten müssen
sich viel stärker dafür einsetzen, dass die Politik der Gewalt des
türkischen Staates sich ändert - ansonsten werde das Dilemma - das endlose
Sterben und Leiden - immer weiter fortgesetzt“, sagte Kitay. „Seit Anfang
2000 strebt die kurdische Bewegung die Demokratische Autonomie als
Gesellschaftsmodell an. Das bedeutet das gleichberechtigte Zusammenleben
sämtlicher Bevölkerungsgruppen und Religions-gruppen innerhalb der Grenzen
der Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien und eine Demokratisierung der
jeweiligen Gesellschaften“.



 *Kundgebung*


 Vor dem Prozessbeginn fand ab 8.00 Uhr vor dem Gerichtsgebäude eine
Solidaritätskundgebung statt, an der ca. 100 Menschen teilnahmen und die
Freilassung Kitays und weiterer aufgrund des § 129b inhaftierten KurdInnen
forderten. „In dem jetzigen Verfahren wird es u.a. darum gehen, ob der
Kampf gegen lang anhaltendes Unrecht und um Selbstbestimmungsrecht legitim
und völker-rechtlich zulässig und gerechtfertigt ist“, hieß es in einer
Erklärung des „Bündnis Freiheit für Ali Ihsan“. In der Türkei werden noch
immer Soldaten, Polizisten und Gefängniswärter u.a. gemäß der
„Panamaschule“, einer Schule für Foltermethoden, ausgebildet. Gestern nahm
die türkische Polizei erneut Kinder und Jugendliche fest, die bereits im
Gefänngnis von Pozanti systematisch u.a. von Wärtern vergewaltigt wurden.
Vor dem Hintergrund täglicher derartiger Menschen-rechtsverletztungen und
in Anbetracht der Prozesserklärung von Ali Ihsan Kitay, sind wir der
Ansicht, dass jeder Mensch mit einem Gewissen sich dafür einsetzen sollte
das Unrecht in der Türkei schnellstmöglich zu beenden. Die kurdische
Bewegung ist seit langem zu einem würdevollen Frieden bereit. Der § 129 b
StGB widerspricht der Gewaltenteilung - und bedeutet allein deshalb
unnötige Gewalt.


 *Freiheit für Ali Ihsan Kitay und alle politischen Gefangenen ! *

*Frieden in Kurdistan !*


 *Nächste Prozesstermine: Dienstag 14., Dienstag 21., und Mittwoch 22.
August*

*jeweils um 9.00 Uhr, OLG Hamburg, Sievekingplatz 1*


 weitere Informationen: www.freealiihsan.tk
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