[imc-presse] RAV-Pressemitteilung_Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Deutschland wegen Polizeigewahrsam

RAV e.V. gs at rav.de
Thu Dec 1 11:40:12 CET 2011


Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde,

 

anbei senden wir Ihnen / Euch eine Pressemitteilung des RAV zu einer heutigen
Entscheidung des Europäische Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg.

 

Wir bitten um Kenntnisnahme und Weiterverbreitung in Ihren / Euren Medien.

 

Vielen Dank.

 

Mit besten Grüßen,

 

Sigrid v. Klinggräff

RAV-Geschäftsstelle

 

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PRESSEMITTEILUNG, Berlin 1.12.2011

 

Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Deutschland wegen Polizeigewahrsam

 

Viereinhalb Jahre nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm hat der Europäische
Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg mit einem am heutigen Tag
veröffentlichten Urteil die Freiheitsentziehung zweier Aktivisten für
rechtswidrig erklärt. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die beiden
Beschwerdeführer Sven Schwabe und M.G. zu unrecht für die Dauer von fast
sechs Tagen in polizeilichem Präventiv-Gewahrsam gehalten wurden, nachdem bei
einer Fahrzeugüberprüfung Transparente mit den Aufschriften „Freedom for all
prisoners“ und „Free all now“ bei ihnen gefunden worden waren. 

 

Die deutschen Gerichte und die deutsche Bundesregierung hatten gemeint, dass
die beiden damit zu „Gefangenenbefreiung“ aufrufen wollten und durch
Wegsperren daran gehindert werden müssten. Für Sven Schwabe und M. G.
bedeutete der Aufenthalt im Gefängnis bereits vor und während des gesamten
G8-Gipfels, dass sie weder Protest gegen (im Laufe der Woche über 1.000)
widerrechtliche Freiheitsentziehungen durch die Polizei noch gegen die
Politik der G8 äußern konnten. Die Freiheitsentziehung der beiden reihte sich
damit ein in die Praxis deutscher Behörden, ohne Rücksicht auf
Verhältnismäßigkeitserwägungen politischen Protesten auf der Straße wie
aktuell beim Castor-Transport mit härtesten Mitteln wie der
Freiheitsentziehung oder körperlicher Gewalt zu begegnen. Weitere Beispiele
hierfür sind Gegenveranstaltungen zu Nazi-Aufmärschen oder Proteste gegen
Großbauvorhaben wie Stuttgart 21.

 

Der Straßburger Gerichtshof hat nun festgestellt, dass diese Form der
Freiheitsentziehung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
verstößt. Verletzt wurden nach dem Urteil vom 8. November 2011 das
Freiheitsrecht aus Art. 5 sowie die Versammlungsfreiheit aus Art. 11 der
Konvention. Der Gerichtshof prüfte eine Verletzung der Meinungsfreiheit nicht
gesondert, da die Meinungsäußerung im Rahmen einer Versammlung geschehen
sollte und insoweit insgesamt Art. 11 EMRK anzuwenden sei.

 

Rechtsanwältin Anna Luczak: „Gerade vor dem Hintergrund der polizeilichen
Praxis, Freiheitsentziehungen als Abschreckungsmethode gegen politische
Proteste einzusetzen, ist diese ausdrückliche Einbeziehung der
Versammlungsfreiheit sehr zu begrüßen.“

 

Besonders wichtig ist die Begründung dafür, wieso der Gerichtshof Deutschland
wegen der Freiheitsentziehung verurteilt hat. Denn dieser zufolge steht nun
nach der Sicherungsverwahrung eine weitere Form der Freiheitsentziehung in
Deutschland in Frage. Wie die Sicherungsverwahrung kann der Polizeigewahrsam
nach deutschen Gesetzen angeordnet werden, wenn „Tatsachen die Annahme
rechtfertigen“, dass eine Person in Freiheit Straftaten begehen würde.

 

Im nun vom Gerichtshof entschiedenen Fall des Polizeigewahrsams gründete sich
die Prognose auf die angebliche Gefährlichkeit der Aufschrift „Freedom for
all prisoners“. Keine der deutschen Behörden, auch die Bundesregierung in
ihren Stellungnahmen nicht, würdigte richtig, was nun der Gerichtshof
eindeutig festhielt: Der Slogan „Freiheit für Gefangene“ hat viele
Bedeutungen und kann auf keinen Fall nur als Aufforderung zu einer Straftat
gelesen werden. Der Gerichtshof hat deshalb schon allein wegen der
fehlerhaften Deutung der politischen Äußerung der Beschwerdeführer die
Freiheitsentziehung als konventionswidrig eingestuft. Weitere Verfahren
werden zeigen, ob es überhaupt eine denkbare Konstellation gibt, in der die
„sichere Prognose einer unmittelbar bevorstehenden Straftat“ einen
Polizeigewahrsam nach der Konvention zulassen kann.

 

Rechtsanwältin Anna Luczak: „Die deutschen Behörden – Polizei und Justiz –
müssen nach diesem Urteil ihre Praxis der Freiheitsentziehung auf den
Prüfstand stellen. Der Gerichtshof hat ausdrücklich festgehalten, dass der
Polizeigewahrsam der Beschwerdeführer keine der fünf in Art. 5 Abs. 1 EMRK
abschließend benannten Formen zulässiger Freiheitsentziehung war. Solange
keine konkret zu erwartende und zu ahndende Tat oder ein Pflichtverstoß zu
benennen ist, darf das Freiheitsrecht nicht beschränkt werden.“

 

Sven Schwabe zeigt sich nach dem Urteil erleichtert: „Es ist schon seltsam,
dass deutsche Gerichte, denen die Sache insgesamt sieben Mal zur Entscheidung
vorlag, nicht eingesehen haben, was nun auf internationaler Ebene ganz klar
gesagt wurde: Es gab überhaupt keinen Grund, uns fast sechs Tage ins
Gefängnis zu sperren. Es gab keinen Grund, uns in der Zelle unsere Lebenszeit
vergeuden zu lassen. Das Urteil aus Straßburg kann das nicht ungeschehen
machen. Aber Polizei und Justiz müssen nun reagieren und dafür sorgen, dass
die Polizei nicht mehr Protestierende einfach mitnehmen, einkesseln oder für
Stunden oder gar Tage wegsperren darf.“

 

 

Dr. Anna Luczak

Rechtsanwältin

 

 

telefonische Erreichbarkeit:

RAin Dr. Luczak: 030/5471 6772 oder 0163/570 0538

Sven Schwabe: 0176/34605653

 

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