[imc-presse] Offener Brief an R.T. Erdogan, Guido Westerwelle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Martin Dolzer humanrights.letter at googlemail.com
Sun Apr 18 08:08:11 CEST 2010


*Sehr geehrte Damen und Herren, anbei ein heute gesandter Offener Brief*


*für Rückfragen stehen wir unter der Tel. Nr. 0176 20705646 zur Verfügung*

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*Offener Brief *

*an den Ministerpräsidenten der Republik Türkei, Herrn Recep Tayyip Erdogan,
den Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Guido Westerwelle
und die Justizministerin der Bundesrepublik Deutschland, *

*Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger *



*Zur Kenntnis an sämtliche Abgeordnete des Deutschen Bundestags, die
Deutsche Botschaft in Ankara und die Menschenrechtsorganisationen Amnesty
International und Human Rights Watch.*

* *

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Herr
Außenminister Westerwelle, sehr geehrte Frau Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger,



im Zeitraum vom 17. März 2010 bis zum 26. März 2010 hielten sich mehrere
Menschenrechtsdelegationen aus der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei
und deren südöstlichen, kurdischen Provinzen auf. Unter den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern befanden sich Bundestags- und Landtagsabgeordnete,
Delegierte von Bundestags- und Landtagsabgeordneten, Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, sowie Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler.



Mit großer Besorgnis mussten wir feststellen, dass in der Türkei noch immer
gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen werden. In Übereinstimmung
mit dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission 2008 und den
letztveröffentlichten Jahresberichten von Amnesty International und Human
Rights Watch sind wir zu der Erkenntnis gelangt, dass vor dem Hintergrund
politischer Instabilität und militärischer Auseinandersetzungen Berichte
über Misshandlungen und Folter in der Türkei erneut massiv zunehmen. Allein
in den kurdischen Provinzen des Landes beträgt die Zunahme derartiger
dokumentierter Fälle von *2005: 284 Fälle* auf *2008: 798 Fälle*. Auch die
dokumentierten Fälle extralegaler Hinrichtungen durch staatliche und
paramilitärische Kräfte häufen sich besorgniserregend. Deutlich geworden ist
ebenfalls, dass türkische Behörden auf kritische Äußerungen noch immer mit
Einschüchterungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen reagieren und Beamte mit
Polizeibefugnissen, selbst bei gravierendsten Menschenrechtsverletzungen,
straflos bleiben. (Vergleiche auch die Studie von Human Rights Watch: Closing
Ranks against Accountability/Barriers to Tackling Police Violence in Turkey)



Besonders möchten wir Sie auf die folgenden Verstöße gegen internationale
und nationale Menschenrechtsregulierungen aufmerksam machen. In diesem
Zusammenhang möchten wir Sie darum bitten, diese Verstöße an den jeweils
entscheidenden Stellen zu thematisieren und im Rahmen ihrer jeweiligen
Möglichkeiten juristische Schritte und Sanktionen gegen die für die
Menschenrechts-verletzungen Verantwortlichen einzufordern oder einzuleiten -
und darüber hinaus alles in ihren Möglichkeiten liegende zu unternehmen,
derartig abscheuliche Vergehen in Zukunft zu verhindern:

* *

* *

   1. Im Dorf Kel (Buğulukaynak), in der Nähe der Kleinstadt Caldiran (nahe
   der Türkisch-Iranischen Grenze, in der Provinz Van) wurden am 7. Oktober
   2009 drei Personen festgenommen, danach Sondereinheiten des Militärs (Özel
   Teams) übergeben – und von diesen extralegal hingerichtet. Unter den
   Ermordeten befand sich der 17jährige Gymnasiast Ibrahim Atabay.



Mitglieder der Jandarma übergaben die 3 Festgenommenen direkt (vor dem Haus
der Familie Atabay) den Sondereinheiten, die sie nach lang andauernden
Folterungen am Rande einer Schlucht (ca. 500m vom Dorf entfernt gelegen) mit
Gewehrsalven hinrichteten. Die Festgenommenen waren nach übereinstimmenden
Aussagen mehrerer Augenzeugen unbewaffnet. Bei zwei von ihnen handelte es
sich um Guerillas, der Dritte, Ibrahim Atabay, war ein 17 jähriger
Gymnasiast aus Kel. Die Leichen hatten zertrümmerte Finger, weitere
zertrümmerte Körperteile und zertrümmerte Schädel. Am Rande der Schlucht
(dem Tatort) wurden auf einer Strecke von 30 Metern Körperreste und
Blutspuren gefunden.



Gleichzeitig zu dieser extralegalen Hinrichtung wurden weitere
Familienmitglieder von Ibrahim Atabay in einem Haus der Familie misshandelt
und gefoltert. Die Familie Atabay ist wegen Errichtung eines, mittlerweile
auf Weisung des türkischen Innneministers Atalay eingerissenen, Mahnmals am
Tatort mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert. Ein von der Familie wegen
des Vorwurfs der extralegalen Hinrichtungen angestrengtes Gerichtsverfahren
wurde unterdessen vom zuständigen Gericht eingestellt.



Sicherheitskräfte und Militärs bedrohten seitdem Mitglieder der Familie
Atabay mehrmals. Die betroffene Familie und weitere Dorfbewohner leben in
ständiger Angst vor erneuten Übergriffen oder Morden. Selbst der
Rechtsanwalt der Atabays ist Drohungen ausgesetzt und kann daher keine
effektive Wahrnehmung der Interessen seiner Mandanten umsetzen. Der Bruder
Ibrahim Atabays befindet sich seit dem Tag der beschriebenen Tat ohne
Anklage im Gefängnis von Van.



Eine weitere Version des Tathergangs, nach der es sich bei der Tat um einen
bewaffneten Konflikt zwischen Soldaten und drei Guerillas gehandelt habe,
ist aller Erkenntnis nach nicht glaubwürdig. Selbst zum Zeitpunkt der
extralegalen Hinrichtungen am Tatort anwesende Soldaten bestätigten den
Vorfall, wie oben ausführlich geschildert, detailliert.



Wir sind erschüttert über ein derartiges, gegen internationale und nationale
Menschenrechts-regulierungen verstoßendes Verbrechen und die Kontinuität der
Menschenrechtsverletzungen durch das Vorgehen staatlicher Behörden und
Beamten. Wir fordern die Aufklärung der Verbrechen und dass die dafür
Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem bitten
wir Sie darum, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, die Drohungen
und Misshandlungen gegen die Familienmitglieder Ibrahim Atabays und weitere
Dorfbewohner sofort zu unterbinden.





   1. Mit Erschrecken mussten wir feststellen, dass wenige Tage nach der
   Rückkehr der Delegationen in die Bundesrepublik, der 14jährigen Junge Mehmet
   Nuri Tamcoban ebenfalls von türkischen Soldaten in der Nähe von Caldiran
   verstümmelt und erschossen worden ist.



Auch diesbezüglich fordern wir die Aufklärung des Verbrechens und eine
juristische Sanktionierung der dafür Verantwortlichen.



   1. In der Nähe der Stadt Sirnak erschossen Soldaten Anfang März den
   26-jährigen Kerem Gün. Er war der ehemalige Vorsitzende der
   Jugendorganisation der Demokratik Toplum Partisi (DTP) in Senoba. Berichten
   zufolge wurde er gezielt von Soldaten an einem Kontrollpunkt erschossen. In
   der behördlichen Legitimation wurde von einem bewaffneten Konflikt mit
   Schmugglern gesprochen. Der Betroffene war unbewaffnet und in Begleitung von
   sechs Freunden, die allesamt ohne weitere Anklage oder Vorwürfe unbehelligt
   aus der Situation hervorgingen. Es wurde nach Zeugenaussagen ohne
   Ankündigung das Feuer eröffnet und die ärztliche Versorgung des
   Schwerverletzten behindert. Dem Tod des 26-jährigen gingen nach
   Zeugenaussagen Todesdrohungen durch Angehörige des Militärs voraus.



Auch in diesem Fall fordern wir die Aufklärung des Verbrechens und eine
entsprechende Sanktionierung der dafür Verantwortlichen. Es ist erschreckend
und unverantwortlich, in welcher Regelmäßigkeit in der Türkei immer wieder
Menschenleben (insbesondere von Jugendlichen) von Soldaten oder
Staatsbediensteten mit Polizeibefugnissen ausgelöscht werden.





   1. Insgesamt wurden in der Türkei seit 2006 mehr als 400 Kinder wegen
   Teilnahme an Demonstrationen oder vermeintlichen Steinwürfen auf
   Demonstrationen, entgegen der UNO Kinderrechtsresolution, zu 4-12 Jahren
   Haft durch für Erwachsene vorgesehene Schwurgerichte für schwere Straftaten
   verurteilt. Ca. 5000 ähnliche Strafverfahren gegen Kinder und Jugendliche
   sind noch anhängig. Als Grundlage der Verfahren wird in den meisten Fällen
   Artikel 8 des “Anti Terror Gesetzes” benutzt. Demzufolge kann eine Teilnahme
   an einer Veranstaltung, die die Behörden einer kriminellen oder
   terroristischen Vereinigung zuschreiben, als Unterstützung oder Propaganda
   für - oder Mitgliedschaft in derselben ausgelegt werden. Viele Kinder
   befinden sich in diesem Zusammenhang über eine lange Zeit (teilweise mehr
   als 9 Monate) in Untersuchungshaft. Die Arbeit von Anwälten wird in vielen
   Punkten - u.a. mangelnde oder zu späte Akteneinsicht, das Abhören von
   Mandantengesprächen, Kriminalisierung von und Berufsverbot gegen Anwälte in
   politischen Verfahren - nicht nur in Verfahren gegen Kinder behindert. Eine
   effektive Verteidigung ist auf diese Weise kaum möglich.



Wir sind betroffen von einem derartigen Umgang mit Kindern und Jugendlichen
und fordern die Einhaltung der UN Kinderrechtsresolution, sowie die
Umsetzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Türkische Justiz.





   1. Eine friedliche und demokratische Lösung des türkisch-kurdischen
   Konflikts ist anerkannterweise ein zentraler Aspekt der Demokratisierung und
   perspektivischen Entwicklung der Türkei. Auch der türkische Staatspräsident,
   Herr Abdullah Gül, ist dieser Ansicht. Um eine realistische Beilegung der
   jahrzehntelangen Auseinandersetzung möglich zu machen, die ihr zugrunde
   liegenden Konflikte zu beheben und die begangenen Menschenrechtsverletzungen
   zu heilen, sind unserer Ansicht nach - und den Erfahrungen der Lösung
   weiterer, zumindest in Grundzügen vergleichbarer Konflikte entsprechend -
   u.a. die folgenden Maßnahmen notwendig:



a.    die sofortige Beendigung der Kriminalisierung von Vertreterinnen und
Vertretern der kurdischen Bevölkerung, von Menschenrechtlerinnen und
Menschenrechtlern, von Journalistinnen und Journalisten und politischer
Aktivistinnen und Aktivisten - auch in Europa und Deutschland;

b.    die Freilassung der ab April 2009 inhaftierten ca.1500 Politikerinnen
und Politiker, unter denen sich 8 gewählte Bürgermeister der Baris Demokrasi
Partisi (BDP), Menschenrechtler (u.a. Regionalvorsitzende des
Menschenrechtsvereins Insan Halklari Dernegi / IHD) und Anwältinnen und
Anwälte befanden;

c.    die Anerkennung sämtlicher kultureller Rechte der kurdischen
Bevölkerung;

d.    eine positive Erwiderung, der immer wieder seitens der kurdischen
Guerilla erklärten einseitigen Waffenstillstände,

e.    die Anerkennung des politischen Willens des mehrheitlichen Anteils der
kurdischen Bevölkerung, die Abdullah Öcalan als wichtigen Vertreter und
Ansprechpartner in einem möglichen Friedensprozess ansehen. Dieser Wille
wurde u.a. auf den Newrozfesten der letzten Jahre, bei Kommunal- und
Parlamentswahlen, sowie in Petitionen, bei Umfragen und auf Veranstaltungen
deutlich zum Ausdruck gebracht;

f.     langfristige Konzepte zur Integration der kurdischen Guerilla und
sämtlicher politischer Gefangener in die demokratischen Gesellschaftsabläufe
- denn ähnlich wie in Südafrika, Nordirland und mehreren südamerikanischen
Staaten, ist ein anhaltender Frieden unserer Ansicht nach nur unter
Einbeziehung sämtlicher Konfliktparteien möglich.





*Wir bitten Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter
Herr Außenminister Westerwelle und sehr geehrte Frau Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger, mit positivem Bezug auf die Menschenrechte und
das Völkerrecht, darum den von uns formulierten Anliegen Ihre Aufmerksamkeit
zu widmen, die Anliegen 1. - 5.d. sofort umzusetzen (oder im Fall der
bundesdeutschen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner auf eine sofortige
Umsetzung hinzuwirken) - und die Maßnahmen 5.e. bis 5.f., im Sinne einer
wissenschaftlichen Analyse, zur Ermöglichung eines anhaltenden Friedens in
der Türkei, in Anbetracht der benannten historischen Erfahrungen zu bedenken
und schrittweise zu verwirklichen.*





Hochachtungsvoll,



Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler

Jürgen Klute, Mitglied des Europaparlaments

Ulla Jelpke, Mitglied des Bundestags

Christiane Schneider, Mitglied der Hamburger Bürgerschaft

Martin Dolzer, Soziologe

Michael Knapp, Historiker

Dr. Elmar Millich, Physiker

Sinje Kätsch, Kunsttherapeutin

Robert Jarowoy, Mitglied der Bezirksversammlung Hamburg Altona

Julia Körperich, Rechtsanwältin

Britta Eder, Rechtsanwältin

Brigitte Reis, Physiotherapeutin

Jana Behrens, Medizinische Flüchtlingssolidarität Hannover

Christian Jakob, Journalist

Julia Neuse, Sozialarbeiterin Beate Reis

Wilhelm Engels

Ludger Schulte

Sabine Caspar

Anja Steinbach, Lehrerin, GEW
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