[imc-presse] [attac-d-presse] Offener Brief an Kanzlerin Merkel

Frauke Distelrath presse at attac.de
Fri Jun 1 21:21:14 CEST 2007


Sehr geehrte Damen und Herren,

im Anhang sowie weiter unten in dieser Mail finden Sie einen offenen
Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, den namhafte Mitglieder des
Wissenschaftlichen Beirats von Attac verfasst haben. Die Unterzeichner
appellieren an Merkel, sich dafür einzusetzen, die weiträumigen
Demonstrationsverbote in der Umgebung von Heiligendamm aufzuheben und
darauf zu drängen, dass rechtswidrige Behinderungen des G8-Protestes wie
etwa die Durchsuchung und das Festhalten von Fahrzeugen vor der
Anreise unterbleiben.

"Wir appellieren dringend an Sie, zur Demonstrationsfreiheit zu stehen
(...), denn die Menschenrechte sind unteilbar, in Russland wie in
Deutschland", lautet der Schlusssatz des Briefes.

Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen Prof. Dr. Elmar Altvater,
Prof. Dr. Mohssen Massarrat und Prof. Dr. Christoph Butterwegge.

Über eine Berichterstattung würden wir uns freuen.

Mit freundlichen Grüßen aus Rostock
Frauke Distelrath



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                                                          30. Mai 2007

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

mit Freude haben wir zur Kenntnis genommen, dass Sie sich mit großem
Engagement für das Demonstrationsrecht einsetzen. Wir schließen uns
Ihrer Meinung an, dass es mit dem Rechtsstaat und der demokratischen
Willensbildung und Meinungsäußerung nicht zu vereinbaren ist, wenn
Demonstranten gehindert werden, ihr durch die Verfassung garantiertes
Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung
wahrzunehmen. Zu diesem Recht gehört, wie Sie richtig festgestellt
haben, auch, den Versammlungsort selbst zu bestimmen oder zum
Versammlungsort anzureisen. Mit Hochachtung und Freude haben wir der
Presse entnommen, dass Sie für folgendes Prinzip einstehen: "Ich sage
ganz offen, dass ich mir wünsche, dass heute Nachmittag die, die ...
demonstrieren wollen ..., das auch tun können, und bin etwas besorgt,
dass manch einer Schwierigkeiten hatte beim Anreisen." Diese Äußerung
bezog sich auf den russischen Schachweltmeister und Oppositionellen
Kasparow, der administrativ gehindert wurde, in Samara gegen Präsident
Putin zu demonstrieren.

Wir hoffen, Sie stehen zu Ihren Äußerungen und schützen mit gleichen
Maßstäben die Demonstrationsfreiheit auch in Deutschland. Legt man
diese Maßstäbe zugrunde, wirkt schon der Zaun um den G8 Tagungsort als
unverhältnismäßige Einschränkung der Demonstrationsfreiheit. In der
Grundsatz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem
Brokdorf-Urteil, aus dem Jahre 1985, erkannte das Gericht der
Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit einen hohen Stellenwert im
demokratischen Prozess zu und führte aus: "Als Abwehrrecht, das auch
und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet
Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort,
Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich
staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder
ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in
einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich
ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln,
galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und
Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers." Die grundsätzliche Freiheit
den Versammlungsort zu wählen und sich frei zu versammeln kann
eingeschränkt werden, wenn Gefahren für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung zu befürchten sind. Keine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit ist es aber, wenn die Staatsoberhäupter der G8-Staaten
erfahren, dass ihre Politik nicht jedem und jeder willkommen ist, wenn
sie also Protest gegen ihre Politik zur Kenntnis nehmen müssen. Auch
darauf haben Sie in Samara richtig hingewiesen, als sie die
Demonstrationsfreiheit für die russischen Oppositionellen am Ort des
Gipfels einforderten.

Wir stimmen auch mit Ihnen überein, dass die Versammlungsfreiheit
gewalttätige Ausschreitungen nicht deckt - auch in dieser Hinsicht
muss man das Grundgesetz nur lesen. Allerdings verlangen Maßnahmen
gegen potenzielle Gewalttätigkeiten eine Gefahrenprognose und eine
Beschränkung der Abwehrmaßnahmen auf die potenziellen Gewalttäter.
Auch hier ist das Grundsatzurteil des BVerfG eindeutig: "Steht
kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit
zu rechnen, daß eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder
aufrührerischen Verlauf nimmt oder daß der Veranstalter oder sein
Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann
muß für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem
Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann
erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine
Minderheit Ausschreitungen begehen." Dieser Grundsatz wird schon
verkannt, wenn der Ort des Gipfeltreffens weiträumig mit einem Zaun
abgesperrt wird, erst recht aber, wenn zusätzlich - etwa am Flughafen
- ein weiträumiges Demonstrationsverbot verhängt wird. Das sieht das
Verwaltungsgericht Schwerin offenbar genau so, wir können nur hoffen,
dass sich die Innenpolitiker Ihrer Koalition dieser Auffassung
anschließen und nicht andere Fakten schaffen.

Auch den "Sicherheitsexperten" in der Regierung und den zuständigen
Behörden dürfte nicht entgangen sein, dass zumindest die weit
überwiegende Zahl der G8-Gegner friedlich zu protestieren beabsichtigt
und die Veranstalter zu friedlichen Protesten aufrufen, wenn die
geradezu beschworenen Ausschreitungen kleinster Minderheiten nicht
sowieso eher Hirngespinste als Realität sind. Schließlich sollte sich
die Öffentlichkeit in Erinnerung rufen, dass Sitzblockaden und
ähnliche Formen zivilen Ungehorsams von der grundgesetzlichen Garantie
der friedlichen Versammlung gedeckt sind, also von den
Sicherheitsbehörden nicht als unfriedlich und gewalttätig zu
denunzieren sind.

Unsere Sorge gilt insbesondere der Tatsache, dass sich die Behörden in
offenbar zunehmendem Maße über die von den Gerichten festgestellte
Rechtslage hinwegsetzen und auch Verurteilungen wegen rechtswidriger
Verwaltungsmaßnahmen in Kauf nehmen, etwa wenn friedliche
Demonstranten immer wieder eingekesselt werden oder an der Anreise
gehindert werden. Wenn sich der Staat derart über seine eigenen
rechtlichen Vorgaben hinwegsetzt, ist nicht nur die
Demonstrationsfreiheit im konkreten Fall, sondern Rechtsstaat und
Demokratie insgesamt in Gefahr.

Aus diesen Gründen appellieren wir an Sie, Frau Bundeskanzlerin, sich
dafür einzusetzen, die weiträumigen Demonstrationsverbote in der
Umgebung von Heiligendamm aufzuheben, darauf zu drängen, dass
rechtswidrige Behinderungen des Protestes wie etwa die Durchsuchung
und das Festhalten von Fahrzeugen vor der Anreise unterbleiben. Die
präventive Inhaftierung von Demonstranten und die mögliche Verwendung
von "Geruchsproben", um Demonstranten ausfindig zu machen oder etwa
gezielt Hunde gegen sie einzusetzen, verstießen gegen alle
rechtsstaatlichen Grundsätze und bedeuteten eine radikale Veränderung
dieser Republik. Wir appellieren dringend an Sie, zur
Demonstrationsfreiheit zu stehen und dafür zu sorgen, dass solche
Überlegungen nicht Wirklichkeit werden, denn die Menschenrechte sind
unteilbar, in Russland wie in Deutschland.


Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Elmar Altvater, Berlin
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Köln
Prof. Dr. Andreas Fisahn, Universität Bielefeld
Daniela Gottschlich, Osnabrück
Dr. Thomas Greven, FU Berlin
Dr. Harald Klimenta, Autor und Publizist
Prof. Dr. Reinhart Kößler, Bochum
Prof. Dr. H.J. Krysmanski, Universität Münster
Prof. Dr. Ilse Lenz, Ruhr-Universität Bochum
Stephan Lessenich, Göttingen
Dr. Bettina Lösch, Köln
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Osnabrück
Prof. Dr. John P. Neelsen, Universität Tübingen
Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg/Berlin
Dr. Thomas Sablowski, Universität Marburg
Prof. Dr. Christoph Scherrer, Kassel
Prof. Dr. Michael Schneider, Filmakademie Baden-Württemberg
Prof. Dr. Frieder Otto Wolf, FU Berlin, Ex-MdEP


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Frauke Distelrath
Pressesprecherin Attac Deutschland
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Post: Münchener Str. 48, 60329 Frankfurt/M
Tel.: 069/900 281-42; 0179/514 60 79
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